„Je besser man seine Figuren kennt, desto selbstständiger können sie sich entwickeln“, sagt die Autorin Marie Gamillscheg und denkt dabei auch an ihren jüngsten Roman. Foto: Roberto Bulgrin

Marie Gamillscheg zählt zu den interessantesten jungen Stimmen der deutschsprachigen Literatur. Bei den Esslinger Literaturtagen Lesart hat die österreichische Autorin, die in Berlin lebt, für ihren aktuellen Roman „Aufruhr der Meerestiere“ viel Beifall erhalten.

Viele haben noch nicht mal ihren Namen je gehört. Doch sie ist da, und sie könnte für so manches Ökosystem zum Problem werden. Denn sie gilt als fresssüchtig, ausgesprochen fruchtbar und fast unsterblich. Und obwohl sie kein Gehirn besitzt, hat sie gelernt, ihr Überleben auch bei äußerer Bedrohung zu sichern. Vieles macht die Meerwalnuss zum interessanten Forschungsobjekt für Meeresbiologen. Dass dieses quallenartige Glibbertier als Romanfigur taugen könnte, ist dagegen eher unwahrscheinlich. Sollte man meinen. Doch Marie Gamillscheg beweist in ihrem Roman „Aufruhr der Meerestiere“ das Gegenteil. Darin erzählt sie die Geschichte der Meeresbiologin Luise, die sich ganz auf die Meerwalnuss fokussiert hat. Und die ihr vertrauter geworden ist als die Menschen in ihrem Leben. Vielleicht sogar als sie selbst. Ein ungewöhnlicher Roman, eine spannende Autorin – beste Voraussetzungen für einen interessanten Abend bei den Esslinger Literaturtagen Lesart.

Fremd im eigenen Leben

Es gibt vieles, was dieses geschlechtslose Tier, das hierzulande nie heimisch war und am Rumpf großer Ozeanschiffe in unsere Breiten kam, für Marie Gamillschegs Protagonistin Luise so interessant macht: „Wir halten die Meerwalnuss für ein primitives Tier, weil sie kein Herz und kein Hirn hat, dabei besitzt sie eine Körperintelligenz, die dem Menschen gänzlich abhandengekommen ist.“ Mit ihrer eigenen Körperlichkeit ist es für die junge Meeresbiologin manchmal so eine Sache: Ihr Körper fasziniert und irritiert sie gleichermaßen. In jungen Jahren litt sie unter Essstörungen, bis heute tut sie sich mit der Nahrungsaufnahme schwer – genau wie mit ihrer Rolle als Frau. Fast beneidet sie die Meerwalnuss um deren geschlechtsloses Dasein, das sie von allen geschlechtsspezifischen Rollenbildern frei macht. Luise hat sich nie richtig zuhause gefühlt. In ihrem Körper nicht, und in ihrem Leben nicht.

Die junge Meeresbiologin ist in Graz aufgewachsen, hat jedoch kaum mehr Bezug zu der österreichischen Stadt und zu den Menschen, die einmal zu ihrem Leben gehört hatten. „Luise ist klug, Luise ist unabhängig, Luise ist eine Insel“, schreibt Marie Gamillscheg in „Aufruhr der Meerestiere“ (Luchterhand Verlag, 22 Euro). Als sie für ein Forschungsprojekt in ihre Heimatstadt zurückkehren muss, bereitet ihr das Unbehagen. Denn vieles wird wieder präsent, worunter sie einst litt und was in der Fremde in den Hintergrund getreten war. Nicht nur die Stadt selbst, die ihr bei einem Straßenfest kleinbürgerlich-piefig erscheint. Vor allem lebt dort ihr Vater, mit dem sie stets ein schwieriges Verhältnis hatte – vieles ist seither unausgesprochen geblieben: „Luise erinnerte sich nicht an sein Gesicht. Sie wusste nicht, ob er eines hatte. Sie wusste nur, dass es der Vater war.“ Dass er nach einem Herzinfarkt gar nicht in der Stadt ist, macht vieles für die Tochter nicht einfacher. So bleibt Luise nichts übrig, als sich ihrer Vergangenheit und ihrem Dasein zu stellen.

„Die Worte immer im Ohr“

Marie Gamillscheg schreibt über all das in einer eindringlichen, oft lyrisch wirkenden Sprache. Sinneseindrücke, Erinnerungen und Reflexionen vereinen sich zu einem schier endlos wirkenden Strom. „Für mich lassen sich Form, Inhalt und Sprache nicht trennen“, verriet die Autorin im Lesart-Gespräch mit Caroline Grafe. Um schon beim Schreiben zu überprüfen, ob sich alles zu einem stimmigen Ganzen fügt, lese sie sich ihre Sätze zwar nicht selbst vor: „Aber ich habe die Worte immer im Ohr.“

Wie sie ausgerechnet auf die Meerwalnuss gekommen ist, vermag die Autorin heute nicht mehr zu sagen: „Oft merkt man erst im Schreiben, worauf man sich mit einem Thema eingelassen hat.“ Als Metapher habe sie dieses Tier nie verstanden: „Aber sie eröffnet neue Möglichkeiten des Nachdenkens über unser Zusammenleben.“ Dass das Meer in ihrem Roman eine zentrale Rolle spielt, findet Marie Gamillscheg naheliegend: „Unser Planet ist zu zwei Dritteln von Wasser bedeckt. Ich wundere mich manchmal, dass in der Literatur so wenig vom Wasser erzählt wird.“

Mit ihrem ersten Roman „Alles was glänzt“ ließ Marie Gamillscheg, die 1992 in Graz zur Welt kam und heute als freie Autorin in Berlin lebt, 2018 aufhorchen: Sie wurde von der Kritik mit viel Lob bedacht, fand sich auf der Bestenliste des österreichischen Rundfunks ORF wieder, wurde für den Aspekte-Literaturpreis nominiert und mit dem österreichischen Buchpreis für das beste Debüt 2018 ausgezeichnet. „Ich hatte beim ersten Roman keine Erwartungen und konnte einfach drauflos schreiben“, verriet Marie Gamillscheg dem Lesart-Publikum. „Durch den Erfolg verliert man etwas die Naivität und muss sich erst wieder freischreiben.“ Dass ihr das mit „Aufruhr der Meerestiere“ gelungen ist, bescheinigte am Ende eine Zuhörerin: „Erst habe ich gedacht: Wie kann man nur über Quallen schreiben. Aber Ihr Roman hat mich überzeugt. Kompliment!“

Die Lesart geht in ihre zweite Halbzeit

Alex Capus
 Der Schweizer Autor ist ein gern gesehener Literaturtage-Gast. Diesmal stellt er am Montag, 21. November, um 19.30 Uhr im Saal des CVJM-Hauses an der Kiesstraße seinen jüngsten Roman „Susanna“ vor.

Lisa Rammensee
Für Kinder ab drei Jahren liest die Autorin am Dienstag, 22. November, ab 16 Uhr im Kommunalen Kino aus „Die Papagei-Ei-Rettung“ – einer Geschichte um ein Wasserschwein und seine Freunde.

Fatma Aydemir
Mit ihrem Familienroman „Dschinns“ ist die Autorin am Dienstag, 22. November, um 19.30 Uhr im Neckar Forum zu Gast: 30 Jahre hat Hüseyin für seinen Traum gearbeitet: eine Eigentumswohnung in Istanbul. Als er just am Tag des Einzugs an einem Herzinfarkt stirbt, reist die ganze Familie aus Deutschland zur Beerdigung an.

Volker Kutscher
 Mit seinen Kriminalromanen um den Berliner Kriminalkommissar Gereon Rath, der in die Wirren der Weimarer Republik und des aufkeimenden Nationalsozialismus gerät, hat Kutscher eine ganz Bestseller-Reihe geschaffen. Was die Begegnung mit ihm und dem neuen Roman „Transatlantik“ am Mittwoch, 23. November, um 19.30 Uhr im Neckar Forum noch reizvoller macht: Kutscher hat mit seinen Gereon-Rath-Krimis die Vorlage zur ebenso aufwendigen wie erfolgreichen TV-Krimiserie „Babylon Berlin“ geliefert.