Peter Rühmkorfs Zettelkasten mit Lyriden (1988) Foto: DLA Marbach

Von Friedrich Nietzsches Totenmaske zur Digitalkamera von W. G. Sebald: Im Juni 2015 hat das Marbacher Literaturmuseum der Moderne seine Dauerausstellung erneuert. Die Schau soll die Seele der deutschen Literatur zeigen.

Marbach am Neckar - Anfang der 1970er Jahre durchlebte Peter Handke eine Schreibkrise. 1978 begab sich der österreichische Schriftsteller sodann auf Reisen: Er fuhr von Alaska nach Kalifornien, nach Colorado Springs und nach New York. Während dieser Zeit füllte Handke Notizbuch um Notizbuch – und durchbrach mit dem Tagebuchschreiben seine Krise. In einem dieser Bücher schrieb er zum ersten Mal über einen gewissen Valentin Sorg – der später zum Protagonisten seines Romans „Die langsame Heimkehr“ werden sollte.

Nun liegen Handkes Notizbücher in einer gläsernen Vitrine im Marbacher Literaturmuseum der Moderne. Sie sind Teil der Dauerausstellung „Die Seele“, die im Juni 2015 eingeweiht wurde. Und die sich nichts weniger vorgenommen hat, als die Seele der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts einzufangen, sie für den Besucher spürbar zu machen und erlebbar.

Skurrile Exponate: Pfeifen-Set, Stachelschweinstacheln, Reifenabdruck

Auf dem Glas, hinter dem Handkes Notizbücher fein säuberlich aufgereiht liegen, steht in glänzend grauen Lettern das Wort „Vorzeitformen“ – eine Wortneuschöpfung, die das Werk im Inneren des Schaukastens charakterisieren soll. Neben dem Wort stehen, etwas kleiner, der Name des Autors, die Jahreszahl sowie der Titel des Exponats. „Unsere neue Dauerausstellung ist eine vergleichsweise zurückhaltende Ausstellung“, sagt Heike Gfrereis, Leiterin des Museums und Kuratorin der Schau. „Sie ist unbunt und unpädagogisch, aber sehr elegant – sie lässt Objekten wie Besuchern viel Raum.“

280 Exponate können diese in ihr entdecken: Manuskripte, Bücher und Notizhefte, aber auch Fotos, Totenmasken und Collagen sowie scheinbar belanglose Habseligkeiten: ein Pfeifen-Set, vier weiß-braun gemusterte Stachelschweinstacheln oder den Abdruck eines Reifens. Sie stehen für die Personen, denen sie einst gehörten, genauso wie für die Zeit, in denen diese lebten.

Was ist Literatur? Was kann sie?

Das Gros dieser Objekte stammt aus den Tiefen des Deutschen Literaturarchivs, das direkt neben dem Literaturmuseum seine Schätze sammelt. Rund 1400 Nachlässe, Teilnachlässe und Sammlungen von Schriftstellern, Philosophen und Gelehrten sowie etwa 450 000 Bilder und Objekte wurden im Laufe seines 60-jährigen Bestehens dort versammelt. Die 280 ausgewählten stellen nicht einmal ein Prozent seines Gesamtbestandes dar. Und sollen doch die folgenden Fragen beleuchten: Was ist Literatur? Was kann sie? Was bleibt von ihr, wenn man die Jahre 1899 bis 2001 im Archiv nach ihr durchsucht?

Das können Interessierte nicht nur vor Ort, sondern auch zu Hause nachvollziehen. Mit der App der Marbacher Literaturmuseen können sie auf dem Smartphone oder dem Tablet an die Exponate heranzoomen, jeweils passende Filme und Erklärstücke zu ihnen ansehen.

Literatur geht über das fertige Werk hinaus

Ist der Gang in die Schau somit passé? Nein, sagt Kuratorin Heike Gfrereis: Die Proportionen der Ausstellungsstücke sowie ihre räumliche Nachbarschaft zu den anderen Exponaten seien nur in der tatsächlichen Schau begreifbar. Sie zeigen, dass Literatur stets über das fertige Werk hinausgeht – dass ihr Entstehungsprozess, die temporären Befindlichkeiten ihres Verfassers sowie ihre geschichtlichen Hintergründe untrennbar mit ihr verbunden sind. Geht man im Literaturmuseum die Treppe zu der Ausstellung hinab, verliert sich das Licht allmählich auf den Treppenstufen. Im Schauraum ist es kühl und dunkel – die Papiere und Fotografien können nur unter spezifischen klimatischen Bedingungen gelagert werden. In der ersten Vitrine, im untersten Regal, begegnet der Besucher sodann Friedrich Nietzsche. Seine bleichweiße Totenmaske – mit vollem Bart und Augenbrauen, einer schiefen Nase – wurde einen Tag nach seinem Tod, am 26. August 1900, in Weimar abgenommen.

Im Literaturmuseum steht sie unstreitbar für das Ende dieses Mannes, zugleich aber auch für seinen Anfang: für den Beginn von Nietzsches posthumer Schriftstellerkarriere. Wie so vielen anderen Autoren – Franz Kafka, Rainer Maria Rilke, Hermann Hesse – wird der Besucher dem Philosophen in der Ausstellung wiederholt begegnen.

Von Max Frisch zu Nina Hagen

Deren Schaukästen sind chronologisch angeordnet, ein Weg durch die frei stehenden Vitrinen ist jedoch nicht vorgegeben. So mäandert der Besucher von einer Zeichnung Kafkas für dessen Geliebte Milena (1920) zu einem Manuskript von Heinrich Mann, mit dem dieser 1946 seine Lebenserinnerungen beendete; von Max Frischs 1954 verfasstem Typoskript des Romans „Stiller“ zu Nina Hagens Schmuckmanuskript des Songs „New York / N. Y.“ (1984).

Und entdeckt dabei, dass nicht nur der Text einer Aufzeichnung etwas über ihren Verfasser aussagt. Dass selbst im Papier verborgene Dimensionen stecken können. So nutzte etwa der Philosoph Martin Heidegger in seiner mehr als 500 Briefe umfassenden Korrespondenz mit seinem Bruder Fritz nur ein einziges Mal die Schreibmaschine: nach seinem Eintritt in die NSDAP am 1. Mai 1933.

„Und auch aus dem Schriftbild kann man ganze Welten ablesen“, sagt Gfrereis. Ist die Handschrift geschwungen und ausholend wie die eines Carl Schmitts in seinem Brief vom 11. Juli 1956 an Ernst Jünger – oder kaum entzifferbar wie die Jüngers in seinem 1970 verfassten Manuskript „Über Drogen und Rausch“?

Zeugnis deutscher Zeitgeschichte

Darüber hinaus bietet „Die Seele“ dem Besucher alternative Rezeptionsweisen. Ein Durchschlag von Erich Kästners kritischem Roman „Fabian“ (1931) beispielsweise weitet den Blick auf den als Kinderbuchautor bekannten Schriftsteller. Zwei Leserbriefe – einer mit kindlich-bunten Zeichnungen, ein weiterer von Marlene Dietrich – zeichnen derweil jenes Bild von Kästner, das wohl die meisten Deutschen haben dürften.

So geht „Die Seele“ über die bloße Darstellung von Literatur hinaus: Was sich auf den ersten Blick wie eine willkürliche Sammlung aus dem Nachlass bekannter und weniger bekannter Literaten ausnimmt, verquickt sich in seiner Summe zu einem beeindruckenden Zeugnis deutscher Zeitgeschichte. Dessen Einzelteile derweil eines gemein haben: Sie alle sind Spuren des handschriftlichen Schaffens, des Schreibens, der Hand.

Der letzte Teil der Ausstellung: das virtuelle Museum

Neben Exponat Nummer 280, der Digitalkamera des Literaturwissenschaftlers W. G. Sebald, öffnet sich alsdann ein Durchgang: der Weg zurück ins 21. Jahrhundert. Der Weg zurück ins Helle. In dem lichtgefluteten Raum, der sich an die Ausstellung anschließt, stehen 24 DIN-A4-große QR-Codes an drei nackten Betonwänden. Eine Glasfront gibt den Blick frei auf die Marbacher Feldlandschaft. Hier beginnt der letzte Teil der Ausstellung – ein virtuelles Museum, das stetig erweitert werden soll.

Bisher darin zu sehen: ein Bündel Bleistifte des Deutschen-Buchpreis-Trägers 2014, Lutz Seiler („Kruso“), zum Beispiel und die Tagebücher des Philosophen Peter Sloterdijk. Allerdings nur auf dem Smartphone oder Tablet – ein Hinweis darauf, dass sich Botschaft und Medium zunehmend trennen, losgelöster voneinander auftreten. Auch die literarische ist eine sehr wandelbare Seele.

Info: Dauerausstellung „Die Seele“

Die Ausstellung: Neun Jahre nach seiner Eröffnung hat das Literaturmuseum der Moderne (Limo) seine Dauerausstellung erneuert. „Die Seele“ zeigt 280 Exponate aus den Beständen des Literaturarchivs aus den Jahren 1899 bis 2001.

Das virtuelle Museum: Informationen zu den Ausstellungsstücken erhalten die Besucher über eine App und QR-Codes. Wer kein Smartphone besitzt, kann sich vor Ort ein Tablet ausleihen.

Service: Das Literaturmuseum der Moderne ist Di. bis So. von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Eintritt 9 Euro. Infos: www.dla-marbach.de