Stuttgart geht aus – die Trottoirs werden ausgeklappt. Es herrscht sommerliche Leichtigkeit. Doch das ist nur ein Ausschnitt der Wirklichkeit, schreibt Jan Sellner.
Stuttgart - Stuttgart lächelt. Wieder – muss man hinzufügen. Das Ausscheiden im Halbfinale der Fußball-Europameisterschaft am Donnerstag hatte die Mundwinkel nach unten rutschen lassen. Es hätte so schön werden können, dieses Final-Wochenende mit Temperaturen bis zu 30 Grad . . . Schön wird es allerdings auch so. Zwar ist der EM-Titel weg, doch der Sommer ist da und alles, was man mit ihm verbindet: Open Air und offene Menschen, Sonne, Freiheit, Leichtigkeit.
Einmal mehr multikulturelles Flair
Stuttgart lächelt, und Stuttgart genießt. Das Leben findet im Freien statt. Auf den Plätzen, in den Biergärten, im Schlossgarten und auf den vielen Festen und Veranstaltungen überall im Stadtgebiet. Das Angebot ist einer Stadt würdig, die etwas auf ihre Internationalität hält: das beginnt mit dem Afrika-Festival am Erwin-Schoettle-Platz an diesem Wochenende. Weltläufigkeit ist auch ein Kennzeichen der Jazz-Open (bis zum 17. Juli), die in kleinem Rahmen beginnen, um dann zur Wochenmitte hin die große Bühne auf dem Schlossplatz zu suchen. Dann findet auch das Sommerfestival der Kulturen auf dem Marktplatz statt. Ebenfalls mit Künstlern von internationalem Rang. Die schwäbische Hauptstadt hat einmal mehr multikulturelles Flair.
Höfe verwandeln sich in Lounges
Stuttgart geht aus, und Stuttgart feiert. Die Freiluftgastronomie freut sich auf tropische Nächte. Die Trottoirs werden nicht mehr hoch-, sondern ausgeklappt, um möglichst viele Tische und Stühle draußen platzieren zu können. Höfe verwandeln sich in Lounges, Plätze in Partyzonen. Ja, und Stuttgart leuchtet – an diesem Wochenende mindestens so sehr wie das stets leuchtende München. Dafür sorgen die Pyrotechniker im Höhenpark am Killesberg. Es ist wieder Lichterfest.
Das Ach unter vieler Leute Dach
Stuttgart lächelt, genießt, geht aus, feiert und leuchtet. Schöne Wirklichkeit. Allerdings nur ein Ausschnitt davon. Zur Wirklichkeit gehört auch all das, was nicht fröhlich ins Auge sticht: das Ach unter vieler Leute Dach. Deshalb sei an diesem Sommer-Sonne-Wonne-Wochenende auch all den Menschen ein Absatz gewidmet, die nicht lächeln, feiern, ausgehen, leuchten, genießen können – oder nur in bescheidenem Maße. Da ist die Frau, eine langjährige Leserin, die sich nach einer Rückenoperation dauerhaft in den Rollstuhl gezwungen sieht. Da sind die Eltern und Freunde des 13-jährigen Flüchtlingsjungen, der beim Freibadbesuch ertrunken ist. Da sind diejenigen, die Menschen auf andere Art verloren haben oder nicht mehr erreichen können. Die Patienten in den Krankenhäusern und Hospizen, die Einsamen in den Heimen – wie kommen sie zu einem Lächeln?
Sommer in der Stadt – das ist angenehm. Sonne im Herzen – das ist wertvoll. Sie strahlt für alle, die keine haben.
jan.sellner@stzn.de