In Stuttgart heimisch: Gelkopfamazone Foto: Tammler

In Stuttgart leben 110 Brutvogelarten. Das klingt viel, doch Ornithologen warnen vor einem Rückgang der Bestände. Die Stadt muss mehr für ihre Vögel tun.

Stuttgart - Um halb sechs Uhr aufgewacht, das Fenster geöffnet – überwältigt worden vom Konzert der Vögel. Minutenlang gelauscht. Den Wunsch verspürt, die Stimmen zuordnen zu können, Vogelexperte zu sein. Allenfalls Amseln herausgehört . . . Unbekannte Natur vor der Haustür und dem Schlafzimmerfenster – das Problem vieler Städter. „Wir hören nur uns. Denn wir werden allmählich blind für das Draußen.“ Ein Satz von Ernst Bloch – mit großem Wahrheitsgehalt. Selbst auch schon festgestellt. Jetzt wieder.

Der frühe Vogel . . . bringt den Ohrenzeugen zum Nachdenken. Wie viele Stimmen sind da eigentlich zu hören? Verändert sich der Gesang? Enthält er eine Botschaft? Und was war noch mal der Vogel des Jahres? Das wenigstens lässt sich schnell herausfinden: Es ist der Stieglitz! Kommt in Stuttgart selten vor. Dafür gibt’s etliche andere Vögel in der Stadt – neben den bunten Vögeln auf zwei Beinen. Der Naturschutzbund zählt 110 Brutvogelarten darunter viele Spechte: Grünspecht, Grauspecht, Buntspecht. Auch der Zaunkönig ist anzutreffen. 1000 bis 1500 Paare brüten hier, sagt der Nabu. Das sollte stimmen, weil die Nabu-Leute regelmäßig frühmorgens die Fenster öffnen und dem Gesang lauschen und nach Feierabend zu Vogel-Spaziergängen einladen, „After-Work-Birding“ genannt.

Kurios: die Gelbkopfamazonen-Kolonie

Es lohnt sich tatsächlich, dem Nabu zuzuhören, wenn man mehr über Vögel in und um Stuttgart herum wissen möchte. Da ist die schöne, immer wieder gern erzählte Geschichte von den Stuttgarter Papageien, die seit den achtziger Jahren hier leben und inzwischen als „heimische Vogelart“ eingestuft werden. Anfangs war es ein Paar. Heute sind es 40 bis 50 Gelbkopfamazonen, die sich in Cannstatt und im Rosensteinpark eingenistet haben – die größte frei lebende Kolonie außerhalb ihrer Heimat Mexiko. Konzerttauglich wie die Amseln, Meisen, Buchfinken, Spatzen und Hausrotschwänze sind die Papageien allerdings nicht. Für ihren Gesang lohnt es sich nicht, früh aufzustehen. Und das ist noch freundlich formuliert. Vielen Cannstattern geht ihr Gekrächze richtiggehend auf den Wecker . . .

Das ist die unterhaltende Seite. Es gibt jedoch auch eine ernste Seite, deretwegen es sich lohnt, dem Nabu zuzuhören. Die Vogelexperten machen auf einen Rückgang der Vogelbestände in Stuttgart aufmerksam, der Gesang wird dünner. Nach den kontinuierlichen Beobachtungen des Ornithologen Ulrich Tammler hat sich die Situation für Singvögel in Stuttgart verschlechtert. Es gibt heute weniger Amseln und Buchfinken als in den neunziger Jahren. Die Zahl der Mehlschwalben etwa ging von 600 auf heute 250 zurück. Verglichen mit anderen größeren Städten nennt Tammler die Vogelbestände in Stuttgart „unterdurchschnittlich“. Es fehlt an Brutmöglichkeiten und unversiegelten Flächen. Das Europaviertel beispielsweise, wo angeblich Zukunft entsteht, gilt bei Vogelkundlern als „naturfreie Welt“.

Stuttgart muss mehr für seine Vögel tun. Dieser Hinweis geht an private Bauherren ebenso wie an jene, die Bauverordnungen erlassen oder darüber befinden. Das fängt damit, dass man morgens ab und zu das Fenster öffnet und sich Zeit nimmt für Stuttgarts schönste Stimmen.

j.sellner@stn.zgs.de