Zuflucht vor der Wirklichkeit: Besucher auf der Leipziger Buchmesse 2024 Foto: epd/Paul-Philipp Braun

Misstöne begleiten das diesjährige Leipziger Lesefest, aber können nicht verhindern, dass sich dort das freie Wort erst recht in seiner Dringlichkeit behauptet. Ein Messerundgang in aufgewühlten Zeiten

Schon entlang der Schlange, die sich bei der Eröffnung der Leipziger Buchmesse vor dem Gewandhaus gebildet hat, verteilen sich wie Kreuzwegstationen Grüppchen Demonstrierender, die auf die schwelenden Krisenherde der Welt aufmerksam machen: „Keine Waffen für die Ukraine“, „Friedensverhandlungen jetzt“, „Stoppt den Genozid in Gaza“. All das verdichtet sich wenig später im Inneren zu einer Kakophonie, in der nicht nur Teile der Rede des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz untergehen, sondern auch die Verständlichkeit der Anliegen der Protestierenden.

 

Das Gleiche wiederholt sich einen Tag später, als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vor deutlich kleinerem Kreis in der geschichtsträchtigen Alten Börse des Doppeljubiläums 75 Jahre Grundgesetz und 35 Jahre friedliche Revolution gedenkt und dabei sechs mal neu anheben muss, weil in einem konzertierten Flashmob propalästinensischer Aktivisten Stafetten skandierter Parolen dazwischen fahren. Man kann diese Formen des Niederbrüllens ärgerlich finden, und doch führen sie in geradezu performativer Weise vor Augen, um was es geht: das freie Wort – und das, was es bedroht.

Und so werden von dieser Messe Reden in Erinnerung bleiben, die gerade in ihrer Gefährdetheit über das bei solchen Anlässen übliche zeremonielle Formelwesen bei weitem hinausgehen: Wenn die Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Karin Schmidt-Friederichs, daran erinnert, unter welchen Gefahren gerade in Leipzig 1989 Freiheiten erstritten wurden, die bei den anstehenden Wahlen in diesem Herbst wieder auf Spiel gesetzt werden könnten; wenn die Soziologin Eva Illouz die Sackgassen aufzeigt, in denen linke und rechte Identitätspolitiken ineinander rasseln, wo es keine allgemeinverbindliche Basis mehr gibt; oder wenn der Träger des diesjährigen Preises für europäische Verständigung, Omri Böhm, mit seinem Konzept eines radikalen Universalismus den Weg wieder frei räumt und eine Theorie der Freundschaft entwickelt, in deren Horizont israelisch-palästinensische wie deutsch-jüdische Verhältnisse über alle Katastrophen hinweg zusammenfinden können. „Wegen der Freundschaft muss die Wahrheit nicht geopfert werden, ganz im Gegenteil, harte Wahrheiten müssen offen ausgesprochen werden, denn wir sollen Freunde bleiben.“ So endet die Dankesrede des Philosophen.

Plüsch-, Perücken- und Daddel-Universum

Das ist alles andere als flach. Unter diesem Motto sind die Niederlande und Flandern angetreten. Als Schriftzug ragt es aus dem Gewässer vor der mächtigen Glashalle auf dem Messegelände. Bei einem Kopje Koffie kann man in dem luftigen, zeltartigen Stand der Gastländer den frischen Wind einer jungen Literatur atmen, in der sich Themen wie Flucht, Kolonialgeschichte, Klima spiegeln, und die sich dagegen aufbäumt, dass uns in vielen Bereichen das Wasser bereits bis zum Hals steht.

Die Hoffnung ruht in Leipzig auf den Schultern der jungen Generation. Und dies nicht nur, weil der Börsenverein am ersten Messetag stolz die Studie „Bock auf Buch!“ präsentiert. Das Ergebnis unterfüttert den etwas altbacken-flotten Titel mit Zahlen. Ein Gang durch die Hallen liefert die dazugehörige Anschauung. Der Blick ins Getümmel zeigt einen Altersdurchschnitt, von dem andere Kulturereignisse nur träumen können – zumindest, wenn man davon ausgeht, dass sich hinter den meisten der Prinzessinnen, Einhörner oder sprechenden Sofakissen, die sich hier unter die Buchinteressierten mischen, eher junge Leute verbergen. Die Comic-Con ist eines der niederschwelligeren Angebote der Leipziger Messe. In Halle eins, hat der Cosplay-Kosmos jener aus Japan stammenden, grenzüberschreitenden Verkleidungskunst zwischen Fantasy und Wirklichkeit seinen Mittelpunkt. Wenig erinnert hier an Leseförderung, vieles dagegen an ein Plüsch-, Perücken- und Daddel-Universum.

Kafka auf Tiktok

Überall ist die Kulturstaatsministerin Claudia Roth zugegen, die mit unermüdlicher Emphase die Segnungen des wenn auch nur noch mit halbiertem Budget fortgeführten Kulturpassangebots preist, das offenbar tatsächlich zu großen Teilen den Bock auf Bücher speist. Beinahe würde man die rührige Politikerin in ihrer Allpräsenz selbst für eine leibhaftig animierte Mangafigur halten.

Träumen würde mancher Aussteller wohl auch von den endloslangen Schlangen, die sich vor dem Stand des Lyx Verlags gebildet haben, wo man Bücher mit Titeln wie „Lonely Heart“ oder „Fallen Princess“ kaufen kann. Auch Claudia Roth hat sich einen Einkaufskorb geschnappt und macht bestens gelaunte Mine zum romantischen Spiel. Booktok, der Buchableger der Social-Media-Plattform Tiktok, hat sich zum zentralen Marketinginstrument für die Generation Z entwickelt. Und beileibe nicht nur im Blick auf jenes pastellfarbene New-Adult-Segment. Mittlerweile werden hier in digitalen Lesekreisen auch Kafka-Zitate getauscht. Ausgerechnet das Medium, in dem Populisten aller Art ihre rattenfängerischen Freudentänzchen aufführen, könnte sich als Retter einer von den schwierigen Zeiten auf ihre Weise gebeutelten Branche erweisen. Die Wege zum Buch sind vielgestaltig.

An einem Stand erzählt eine Autorin mit dem sprechenden Pseudonym Toxische Pommes, wie aus kurzen Tiktok-Clips über österreichische Mikroaggressionen ihr Buch „Ein schönes Ausländerkind“ geworden ist. Ganz zu überzeugen vermag der Auftritt nicht, vielleicht sollte sie einen Autoren-Coach zurate ziehen. Denn auch das gibt es: Spezialisten, die sich ausschließlich damit befassen, der Darbietung von Texten größtmögliche Wirkung zu sichern.

Schräg gegenüber des kommerziellen Lyx-Romantik-Eldorados hat die Literaturkritikerin Insa Wilke in einer Mischung von Litfaßsäule und Telefonzelle ihr Litcafé eröffnet. Hier wird der virtuelle Raum nicht genutzt, um Marktgesetze zu befriedigen, sondern um sich gegen sie aufzulehnen. Die Clips, die auf dieser Plattform zu sehen sind, folgen keinerlei Rücksichten, außer der Überzeugung, dass das kluge Gespräch über relevante Bücher, der Austausch von Leseerfahrungen und die Lust am Versucherischen viel zu überzeugend sind, um nicht ausprobiert zu werden.

Oder droht der Möglichkeitsraum der Literatur von den leeren Wahrscheinlichkeitssätzen der Künstlichen Intelligenz zugemüllt zu werden? Darüber diskutiert beim PEN Berlin der Philosoph Hannes Bajohr mit der Autorin Valerie Fritsch. Er hat einen Chatbot mit vier Romanen gefüttert, um herauszufinden, ob KI einen Roman generieren kann. Das Ergebnis ist das Buch „Berlin Miami“ und die Antwort: nein, sie kann es nicht. Gleichwohl sieht Bajohr in der Tradition experimentellen Schreibens durchaus inspirierende Potenziale, digitales Dada. Während Valerie Fritsch die Nähe zu den Dingen braucht: „Wenn ich mich mit Unterdrückung beschäftige, fahre ich in ein kasachisches Gefangenenlager, wenn ich über Gewalt schreibe, trinke ich Kaffee mit Mördern, wenn ich über missbrauchte Körper recherchiere gehe ich ins Bordell.“

Wenn man aber erleben will, mit welcher superheldischen Kraft sich Literatur über die vielfältigen Schrecken der Wirklichkeit erheben kann, begibt man sich am besten in die Glashalle, wo die aus Serbien stammenden Schriftstellerin Barbi Markovic für ihren Roman „Minihorror“ den Preis der Leipziger Buchmesse verliehen bekommt. Sie bedankt sich dafür, in dem sie spontan zu den Episoden ihres Buches einfach eine weitere hinzuspinnt. Sie erzählt wie ihre Protagonistin Mini den Preis der Leipziger Buchmesse erhält und sich mit einer Rede bedankt, die alle Probleme der Welt lösen soll, aber zu einem einzigen Debakel wird. Es ist mit Sicherheit die lustigste Rede, die auf dieser Messe zu hören gewesen ist – und zugleich ein hoffnungsvolles Zeichen für den Widerstand entwaffnender Komik in dunklen Zeiten.