Zum dritten Mal in Folge ist das große Frühjahrstreffen der Buchbranche in Leipzig abgesagt worden. Doch dem düsteren Gemunkel, dies könnte das Ende des sächsischen Messestandorts bedeuten, haben mutige Verleger ein vor Leben sprühendes Zeichen entgegengesetzt.
Ein grauer Tag, riesenhafte Skelettbauten ducken sich wie frierende Saurier unter eisigem Wind. Verlassen liegt das Gelände da. Vorn an der Ecke irren vier junge Leute durch die Weiten. Ob sie auch zur Verleihung des Buchpreises der Leipziger Messe wollen? „We don’t speak English“, antwortet einer verschämt der auf Deutsch gestellten Frage. Sie sprechen kein Englisch, sondern Ukrainisch und gehören zu einer Gruppe Geflüchteter, die dort untergebracht wurde, wo in diesen Tagen eigentlich die Stände der Verlagswelt das Gelände in einen summenden, geschäftigen Bienenstock verwandelt hätten.
Schon zweimal musste die Leipziger Buchmesse coronabedingt ausfallen. Dieses Jahr sollte sie ihr Comeback feiern. Doch kaum hatten Stadt und Land grünes Licht gegeben, ließ die Absage dreier großer westdeutscher Verlagskonzerne die Leipziger Frühlingsträume platzen. Die Risiken angesichts einer drohenden Hochinzidenzlage seien zu groß. Und so wäre von dem Großereignis ein weiteres Mal nichts geblieben als ein Auftakt mit den traditionellen Preisverleihungen, ohne Fortsetzung und Schluss. Wenn nicht zwei mutige Verleger mit Trotz und Erfindungskraft der geplatzten Messe zu einer kleineren, aber dafür umso bunteren Pop-up-Wiedergeburt verholfen hätten, was man sich am besten so übersetzt, wie es klingt. Doch dazu später.
Ein Buchpreisträger mit Sprachschwierigkeiten
Erst einmal werden in dem höchstens halb gefüllten Glashaus die Gewinner und Gewinnerinnen des Leipziger Buchpreises gekürt. „Während der Verleihung kommt eine Filmdrohne zum Einsatz“, verkündet eine Durchsage. Drohnen wecken in diesen Tagen eher unbehagliche Gefühle. Irgendwie hat man den Eindruck, als würden auch die Entscheidungen der Jury weit über allen Köpfen schweben. Der israelische und in Berlin lebende Schriftsteller Tomer Gardi erhält den Preis in der Königskategorie Belletristik. Ein Satz wie „I don’t speak German“ würde ganz gut zu ihm passen. „Ein Schriftsteller ist jemand, der Schwierigkeiten hat mit die deutsche Sprache“, liest man in seinem prämierten Roman „Eine runde Sache“, der zur einen Hälfte in gebrochenem Deutsch verfasst ist, zur anderen aus dem Hebräischen übersetzt wurde.
Tomer Gardi ist sicher der einzige Träger eines deutschen Buchpreises, dem die Frage gestellt wird, ob seine Fortschritte im Spracherwerb nicht seine künstlerische Ausdruckskraft gefährden. Mit weit geöffnetem Blumenhemd, überquellender Freude und ebensolcher Brustbehaarung nimmt der 48-Jährige Glückwünsche für „das Preis“ entgegen. Doch bei aller Heiterkeit, mit der hier das, was man für eine literarische Schlüsselqualifikation gehalten hätte, einem zumindest halb nackten Kaiser zu Füßen gelegt wird, lastet über dem Glashaus der Literatur der Schatten des Krieges.
Schwerter zu Pflugscharen
Leipzig ist die Partnerstadt von Kiew. Bereits am Vorabend war der Buchpreis zur Europäischen Verständigung in der Nikolaikirche an den literarischen Weltenwanderer Karl-Markus Gauß verliehen worden, dessen Wege immer ostwärts geführt haben, durch die Gegend, die gerade dem Erdboden gleich gemacht wird. Ein Banner an der Kanzel erinnert an einen anderen hoffnungsvollen Aufbruch, der 1989 einmal von hier ausging: „Schwerter zu Pflugscharen“.
Schon ziemlich weit im Osten ist man im „Chinabrenner“, auch wenn dieser Ort, den man so wohl nirgendwo anders als in Leipzig finden kann, eher im Westen der Stadt liegt: In den nüchternen Räumlichkeiten einer ehemaligen Gießerei wird authentische Szechuan-Küche serviert. Hier feiert am Abend das Netz der Literaturhäuser die russisch-ukrainisch-jüdische Autorin Sasha Marianna Salzmann. Während sich manche ihrer Kollegen inzwischen zu Militärexperten gewandelt haben, nennt sie drei Punkte, auf die es jetzt ankomme: Spenden, Obdach, Unterstützung für die Geflüchteten.
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Unter den Gästen ist auch ein Mann mit unglücklichem Gesicht. „Ich bin hier wohl das . . .“, und dann folgt ein Ausdruck, der sich nicht zitieren lässt. Es ist der verlegerische Geschäftsführer eines jener Konzernverlage, die seit ihrer Absage zu den Feindbildern der hier versammelten Buchrepublik zählen. Corona sei nur ein willkommener Vorwand gewesen, den in geschäftlicher Hinsicht wenig lukrativen Leipziger Frühlingstermin zugunsten der Herbstmesse im westdeutschen Frankfurt über die Klinge springen zu lassen. So der Vorwurf, den der Mann mit dem traurigen Gesicht entschieden zurückweist, schon wegen der in diesen Tagen tatsächlich in astronomische Höhen schießenden Inzidenzzahlen.
Doch auch hier gibt es die Konstellation David gegen Goliath. Die beiden Davids heißen Gunnar Cynybulk und Leif Greinius, Gründer des Kanon-Verlags der eine, Verleger von Voland und Quist der andere. Sie sitzen am Tag darauf in der Sonne in dem für seine Autonomiebereitschaft bekannten Leipziger Stadtteil Connewitz. Aus der früheren industriellen Produktionsstätte Werk 2 ist eine Kulturfabrik geworden. Hier haben die beiden trotzig eine Ersatzveranstaltung organisiert, eine Pop-up-Messe, wie sie es nennen – selbst der graue Himmel über Leipzig ist aufgepoppt und zeigt sich in strahlendem Ukraineblau.
Eine Buchmesse ohne rechte Verlage
Nachdem sie vor einigen Wochen ihre Idee bekannt gemacht hatten, gab es binnen 48 Stunden bereits 120 Anmeldungen, darunter die Flaggschiffe unter den unabhängigen Verlagen, Aufbau, Suhrkamp, Hanser, C.H. Beck, Klett-Cotta. Und es wurden immer mehr. Als sich abzeichnete, was hier entsteht, wollten einige Konzernverlage kurzfristig noch aufspringen. „Das hat uns sehr gewundert, ihre Absage hat das Ganze ja erst in Gang gebracht“, sagt Gunnar Cynybulk.
Alles, was man auf dem Messegelände schmerzlich vermisst hat, findet sich in der eindrucksvollen ehemaligen Fabrikhalle, ein wuselndes, nur durch ein kluges Hygienekonzept reguliertes Leben. Liegt es an dem soziokulturellen Charme, der liebevollen Selfmade-Geschäftigkeit, der fröhlichen Flohmarkt-Atmosphäre, den guten Büchern oder den leckeren äthiopischen Speisen, die in einem Hinterhof improvisiert werden – alles erscheint konzentrierter, intensiver, begegnungsreicher denn je. Und endlich einmal eine Messe, die nicht dominiert wird vom leidigen Streit über den Umgang mit rechten Verlagen. Sie kamen erst gar nicht auf die Idee, sich hier anzumelden.
Helden in Connewitz
Leif Greinus und Gunnar Cynybulk blinzeln zufrieden in die Sonne. Schon wenige Stunden nach Beginn deutet alles auf einen großen Erfolg, die Lesungen werden angenommen. „Ihr seid Helden“, rufen Vorübergehende ihnen zu. Ist mit diesem Pop-up am Ende eine neue dauerhafte Einrichtung aufgesprungen? Die beiden blicken sich an, lächeln: „Einmalig“, sagt Gunnar Cynybulk. Leif Greinus fügt hinzu: „Sollten wir allerdings im nächsten Jahr noch einmal vor dieser Situation stehen, würden wir alles wieder genauso machen.“
Auch der Mann mit dem traurigen Gesicht schlendert durch die Reihen. Und die österreichische Schriftstellerin Teresa Präauer, die dann auf einer der drei Bühnen liest. Auf ihrer Maske ist schon einmal der Slogan für das Gastland Österreich im nächsten Jahr zu lesen: „Mea ois wia mia“. Was das heißt? We don’t speak English.