Die mittlere Lerche auf der Königstraße war eine von drei Filialen, die viele als Paradies empfanden Foto: Kraufmann

Unter dem Druck des harten Wettbewerbs müssen immer mehr Traditionsgeschäfte in der City schließen. Haufler und Hirrlinger sind die aktuellen Beispiele. Das Stuttgart-Album erinnert an legendäre Läden wie Lerche, Barth, Entress und Govi – an Läden, die ganze Generationen prägten.

Stuttgart - Unter dem Druck des harten Wettbewerbs müssen immer mehr Traditionsgeschäfte in der City schließen. Haufler und Hirrlinger sind die aktuellen Beispiele. Das Stuttgart-Album erinnert an legendäre Läden wie Lerche, Barth, Entress und Govi – an Läden, die ganze Generationen prägten.

Aller Anfang ist aufregend. Kaum fiel in Berlin die Mauer, spürte in Stuttgart ein werdender Mann, dass für ihn Großes bevorstand. Sein erstes Mal. Es geschah im pubertären Unverstand – im obersten Stock eines legendären Musikhauses. „In der Lerche habe ich meine Unschuld verloren“, gesteht Sascha-Boris Schlender auf der Facebook-Seite des Stuttgart-Albums, „denn dort habe ich 1989 meine erste Single gekauft – ,Looking For Freedom‘.“ Es war jener Song, den Rettungsschwimmer David Hasselhoff vor der Mauer so inbrünstig als Freiheitshymne aufgeführt hatte, als habe er allein Deutschland zusammengeführt.

Die Suche nach Freiheit führte Massen von jungen Menschen über Jahrzehnte hinweg in eines von drei schmucklosen und verwinkelten Häusern an der Königstraße, die viele als Paradies empfanden. Es gab die untere, die mittlere und die obere Lerche. Aber keine von ihnen singt heute mehr.

Schüler verbrachten Stunden beim Musikhören

Die Lerche glich einem verwunschenen Ort, an dem Generationen von Stuttgartern ihr Gehirn abschalteten und ihr gesamtes Konfirmandengeld durchbrachten. Hätten Lehrer ihre angeblich kranken Schüler gesucht, wären sie hier klassenweise fündig geworden. Keinen störte, dass man sich im schmalen Aufgang des Treppenhauses den Kopf an der Decke anschlug. Oben angekommen, befand man sich im betreuten Plattenhören. Die Verkäufer trugen weiße Arztkittel. Selbst bei größter Hitze durften die nicht ausgezogen werden. Wir verbrachten Stunden an der Musiktheke. Wer was sagen wollte, musste schreien – sonst bestand keine Chance, durch die wummernden Kopfhörer zu den Ohren vorzudringen.

Wer eingekauft hatte, trug seine Beute in bunten Plastiktüten stolz nach Hause. Damals waren die Tonträger so groß wie eine Pizza. Die Taschen mit dem berühmten Lerche-Logo fielen also auf. Im Dezember waren sie mit einem Weihnachtsmann geschmückt. Bereits in der Straßenbahn musste man in diese Zaubertüte greifen – denn so ein neu erstandenes Album fühlte sich verdammt gut an. Auf haptische Genüsse müssen wir heutzutage beim Online-Streamen, Musikdownloaden und Raubkopieren völlig verzichten. Die Schätze einer Covergestaltung sind ebenso untergegangen. Das Internet stürzte die Musikindustrie von einer Revolution zur nächsten, was am Ende auch die Stuttgarter Lerche verstummen ließ. 2004 musste das einstmals größte Radio- und Fotohaus Süddeutschlands für immer schließen. Der Preiskampf gegen die Branchenriesen und Mediamärkte war endgültig verloren. Auch der ebenso unvergessene Plattenladen Govi auf dem Kleinen Schlossplatz hatte keine Chance in der neuen Zeit.

Zurück zu den Gründerjahren, als alles so traumhaft war: 1959 hatte Albert Armin Lerche – zuvor war er Geschäftsführer des EM-Filmtheaters – den Plattenladen eröffnet. Schon wenige Jahre später wurde aus der Lerche eine Institution mit drei Standorten an der Königstraße. Ohne Klimaanlage liefen im Sommer mit den Plattenspielern die Menschen heiß. Es war die Zeit, als der Einzelhandel auf der teuersten Meile der Stadt noch familiengeführt Gewinne abwarf. Heute machen die Ketten das Geschäft unter sich aus – mit uniformierten Läden, die überall gleich sind. Würde jemand vom Himmel in eine Fußgängerzone fallen, er wüsste nicht, in welcher Stadt er wäre.

Gewinnen am Ende immer die Ketten gegen die Familienunternehmen?

„In der Lerche war Schweißgeruch ohne Ende“, erinnert sich Timo Kopp im Stuttgart-Album. Sind die vielen Lerche-Fans, die heute einen wichtigen Ort ihrer Kindheit und Jugend vermissen, am Ende selbst schuld, dass es nicht mehr weiterging? Hätten sie nicht öfter dort einkaufen und das billigere Angebot der Mediamärkte ignorieren sollen? Erst ließen sich die Musikfreunde im Radiohaus Barth beraten, kauften aber in der billigeren Lerche ein. „Radio Barth war Kult“, erinnert sich Barbara Treichel, „man konnte dem Verkäufer was vorsingen – und er wusste auf Anhieb, was gemeint war.“

Es hat sich ausgesungen. Gewinnen am Ende immer die Ketten gegen die Familienunternehmen? Beim Sportgeschäft Entress, das 2005 auf der Königstraße geschlossen hat, verhält es sich anders, schreibt Lars H. Mehler auf unserer Facebook-Seite: „Entress war selbst Mitglied einer großen Kette, nämlich von Intersport. Die Ketten sind hier nicht das Problem, vielmehr haben die Generalisten ein Problem aufgrund der vielen Spezialanbieter.“ Thomas Renner sieht es so: „Jammern hilft nicht mehr. Ebay war der Anfang, und nun kann man weltweit über das Internet alles kaufen und verkaufen. Der Preis regiert die Welt. Für Tradition kann man nichts kaufen, so schade es auch ist.“

Erinnerungen sind zeitlos. Gute Erinnerungen sind Geschenke der Vergangenheit, die umso wertvoller sind, je älter sie werden. Schallplatten bekommen irgendwann Kratzer, Erinnerungen hingegen glänzen mit der Zeit immer makelloser. Es sind Erinnerungen an die ersten Singles für 4,90 Mark, an den ersten Discman, an geschwänzte Schulstunden, an „Looking For Freedom“.

Nicht alles aus früheren Zeiten ist vergangen. Die Mythen in Tüten bleiben. Man sieht die berühmten Lerche-Tüten in der Stadt noch immer. Diese Tüten werden stolz getragen – die Besitzer zeigen damit stumm an: Wir waren dabei! Unsere Unschuld verlieren wir noch heute gern!

Diskutieren Sie mit unter: www.facebook.com/Album.Stuttgart. Schicken Sie historische Fotos an: info@stuttgart-album.de. Das Stuttgart-Album ist als Buch im Silberburg-Verlag erschienen.