Ein bewaffneter Mann steht während eines Luftangriffsalarms auf dem Maidan-Platz neben einer Barrikade. Foto: dpa//Vadim Ghirda

Mit Waffen, Ausrüstung und Straßensperren bereiten sich die Einwohner der ukrainischen Hauptstadt auf einen Einmarsch der Russen vor. Unser Autor Franz Feyder ist in Kiew und hat mit Bewohnern gesprochen.

Kiew - Gegen die Taliban hat er gekämpft. Damals, als junger Mann, 1987, im Osten Afghanistans. Jalalabad. „Lungendurchschuss, da haben sie mich rausgeholt“, erzählt Roman Luytschynsky, und sein Lachen entblößen die acht, neun Stumpen, die er noch im Mund hat. Damals, sagt er, kämpfte er auf der Seite derer, die ihn heute in seiner Heimatstadt Kiew angreifen: Feldwebel war er, Fallschirmjäger der Roten Armee, „als niemanden interessierte, ob du aus der Ukraine, aus Russland oder Litauen kamst“.

 

Heftige Explosionen in der Hauptstadt der Ukraine

Zwei Jahre nachdem Ärzte ihn wieder zusammenflickten, floh die Rote Armee im Februar 1989 vom Hindukusch. Weitere zwei Jahre später gab es die Sowjetunion nicht mehr und auch keine Rote Armee. Dafür eine souveräne Ukraine, Romans Heimat. „Mein Vaterland, das Putin jetzt überfällt. Er trachtet mir nach dem Leben, mit dem ich für die Sowjetunion gekämpft habe“, wird der 68-jährige wütend. „Er soll nur kommen! Zwischen den Häusern von Kiew wird er verbluten, wie wir damals in Afghanistan, er soll nur kommen!“

Eine heftige Explosion erschüttert die ukrainische Hauptstadt irgendwo im Zentrum, wenig später auch im Norden und Süden. Am Vortag waren bei einem Luftangriff auf den Fernsehturm nach ukrainischen Angaben fünf Menschen getötet worden. Der Turm steht in der Nähe der Schlucht von Babyn Jar und der Gedenkstätte zur Erinnerung an ein von der Wehrmacht verübtes Massaker an jüdischen Ukrainern im Zweiten Weltkrieg.

Am Mittwochmorgen macht sich die Nachricht breit, die Vereinten Nationen stellten einen Konvoi von Flüchtlingen zusammen , der die Metropole verlassen könne. Vonseiten der UN wurde das auf Nachfrage nicht bestätigt. Doch sie veröffentlicht etwas anderes: 836 000 Menschen seien bereits vor den Kämpfen außer Landes geflohen.

„Jeder, der jetzt keine Waffe hat, soll gehen“, nickt Roman. In seinen blauen Augen spiegelt sich Entschlossenheit „Dann müssen wir weniger darauf achten, nicht die eigenen Leute zu beschießen.“

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Am siebten Tag der Invasion landeten russische Luftlandetruppen in Charkiw, der 1,5-Millionen-Einwohner-Stadt im Nordosten des Landes, wie die ukrainische Armee am Mittwochmorgen mitteilte. „Es findet ein Kampf zwischen den Invasoren und den Ukrainern statt“, hieß es. Inmitten der anhaltenden Luftangriffe sei auch ein Krankenhaus in der Stadt attackiert worden. Mindestens vier Menschen sollen bei den Bombardements getötet worden sein.

Die Hauptstadt Kiew stellt sich darauf ein, in den kommenden 24 bis 48 Stunden eingekesselt zu werden: Im Westen hat eine Stoßgruppe der Russen das Örtchen Makariw erreicht, von dem aus sie die Autobahn M 06 mit Panzern und Artillerie beschießen können. Damit wäre die wichtigste Nachschublinie unterbrochen, die den Westen mit dem Rest des Landes verbindet. Im Osten Kiews werden Panzer in Pryluky gemeldet. Im Norden haben sich die Invasoren in den Vororten Pohreby, Irpin und Brovary festgesetzt. Dort bekommen sie einen Eindruck von dem, was sie erwartet, wenn sie in die Metropole Kiew eindringen: „Wir werden sie aus allen Richtungen angreifen. Mit unseren Gewehren, mit Panzerfäusten, mit Handgranaten, mit Molotowcocktails. Wir alle zusammen. Unsere Soldaten. Und an ihrer Seite wir, das Volk“, skizziert Roman ein Horrorszenario. Die Männer und Frauen um ihn herum nicken: Kalaschnikows in den Händen, dunkle oder tarnfarbene Hosen an den Beinen, pinke und blaue Winterjacken, ein paar haben Militärparka um die Oberkörper, Pudel- und Fellmützen auf dem Kopf.

Überall werden Straßensperren erreichtet

Wie überall in der Stadt haben sie auch hier im Stadtteil Shulyavka aus Betonquadern und Sandsäcken Stellungen gebaut. Der Zoo ist nicht weit und auch die großen Parks nicht. Hier haben sie sich in den gefrorenen Boden zwischen den grauen Ziegel-, Sandstein- und Plattenbauten gegraben. Haben Panzersperren zusammengeschweißt. Sie bauen Fallen und bereiten sich so auf einen Kampf vor, der alles andere als aussichtslos ist: Lässt Putin seine Soldateska Kiew angreifen, verändert er schlagartig das Kräfteverhältnis zugunsten der Verteidiger.

Auch wenn fünf, sechs Angreifer im Orts- und Häuserkampf auf einen Verteidiger kommen, wie die Taktiklehrer es den Kampftruppen der Nato beibringen – die zahlenmäßig unterlegenen Verteidiger kennen ihre Stadt. Immer wieder wurden in der jüngeren Geschichte Schlachten um Städte zu Massengräbern für die Angreifer. Stalingrad in Russland, Monte Cassino in Italien, Sarajevo in Bosnien, das irakische Falludscha. Für jeden Truppenführer ist allein der Gedanke an einen Kampf in einer Stadt eine Horrorvorstellung. Erst recht in einer Metropole, wo Verteidiger plötzlich in bereits sicher geglaubten Gebieten wieder aus der Kanalisation im Rücken der Angreifer auftauchen.

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Russische Generäle drohen, sie werden mit Artillerie und Luftwaffe die Stadt in Schutt und Asche legen. „Sollen sie“, kontert Roman. „Bessere Stellung als Ruinen können wir selbst gar nicht bauen.“ Auch hier weiß der Mann mit dem Dreitagebart die Militärgeschichte auf seiner Seite, das, was Soldaten leidvoll über Jahrzehnte gelernt haben: Dass jeder Schuss Munition, jeder Tropfen Wasser und Benzin, jeder Verwundete zu Fuß transportiert werden muss, wenn Trümmer und zerstörte Panzer Straßen, Wege und Durchlässe versperren. Dass Häuserkampf immer mehr Verluste unter den Angreifern als von den Verteidigern fordert. Gerade in einer Stadt, die nur wenig kleiner als Berlin ist. Gegen frische, gut ausgebildete Truppen und hoch motivierte Einwohner.

Der Verteidiger von Kiew

„Im Internet“, sagt Roman, „liest man, dass unsere Armee 204 000 Soldaten hat. Das stimmt nicht: Wir haben 44 Millionen!“ Die offizielle Einwohnerzahl der Ukraine. Wie er die notfalls die 2,9 Millionen ernähren will, die offiziell bis zum Beginn des russischen Überfalls vergangenen Donnerstag in Kiew lebten? Jetzt, wo die Regale in den Geschäften leer sind, wo die Menschen vor den Bäckereien Schlange stehen? In Sarajevo, sagt er, hätten die Menschen vor 30 Jahren vier Jahre eingekesselt den serbischen Invasoren standgehalten. Die Stadt ist nie in die Hände der Angreifer gefallen.

„Putin wird in der Ukraine sein Afghanistan erleben“, ist sich der Alte sicher. „Sein Tschetschenien, sein Stalingrad. Wir sind der Anfang von seinem Ende!“ Er lacht, der alte Afghanistan-Veteran. Er wartet auf die Russen. Der Feldwebel der Roten Armee, aus dem ein Verteidiger von Kiew, der Hauptstadt der Ukraine geworden ist.

Vor Ort

Franz Feyder (58)
ist für unsere Zeitung in die Ukraine gereist und berichtet aus dem Kriegsgebiet. In Shulyavka, einem Stadtteil von Kiew, trifft er auf den 68-jährigen Roman Luytschynsky. Der Ukrainer kämpfte einst in der Roten Armee – und wappnet sich nun gegen den Angriff der Russen auf die Hauptstadt Kiew.