Michael Groh, Anna Sommer, Glenda Almeida-Schüler, Jamie Speidel, Kerstin Ederer (mit Hündin Nala) und Jugendreferentin Franziska Enders (von links) kümmern sich um Jugendliche auf der Schönbuchlichtung. Foto: Stefanie Schlecht

Die Jugendsozialarbeit im Kreis Böblingen hat mit den Folgen der Coronapandemie schwer zu kämpfen: Kinder und Jugendliche sind zunehmend antriebslos, aggressiv und psychisch auffällig. Psychologen direkt an den Schulen könnten helfen – die gibt es aber nicht.

Die Coronapandemie hat die Welt auf den Kopf gestellt. Vor allem junge Menschen waren durch die Lockdowns und den Stillstand im öffentlichen Leben stark eingeschränkt. Jugendsozialarbeiter erleben zunehmend die Folgen: Die Schule wird geschwänzt, es gibt psychische Probleme und Schwierigkeiten, Konflikte zu lösen. Alles nicht neu, sagen vier Holzgerlinger Schulsozialarbeiterinnen und die Jugendreferentin Franziska Enders, doch die Häufigkeit der Fälle sei seit dem Ende der Pandemie stark gestiegen und stellt die Gruppe vor große Herausforderungen. Ein Problem, das nicht allein die Schönbuchlichtung plagt: Michael Groh, Bereichsleiter für Jugendsozialarbeit im Waldhaus, weiß, dass sich Jugendsozialarbeiter landauf, landab schwertun, die Kinder und Jugendlichen aus dem Lockdown-Modus herauszuholen – vor allem in einer Zeit, in der eine Krise die nächste jagt.

 

Mittlerweile liegt die Wartezeit für einen Termin bei Kerstin Ederer zwischen zwei und drei Wochen. An der Otto-Rommel-Realschule in Holzgerlingen hat die Schulsozialarbeiterin ein waches Auge auf rund 750 Schülerinnen und Schüler. „Pro Tag bin ich im Schnitt mit bis zu sechs Einzelfallgesprächen beschäftigt“, erzählt sie. Dies stehe im Gegensatz zur eigentlichen Jugendarbeit, deren Ansatz in der Regel präventiv und generalistisch ausgelegt sei, erklärt Michael Groh. Einzelfälle gehörten zwar auch zur Arbeit, sollten aber nicht überhandnehmen. Doch davon kann nach der Pandemie keine Rede mehr sein. „Wir arbeiten momentan die meiste Zeit als Feuerwehr“, bestätigt Anna Sommer, die gemeinsam mit Glenda Almeida-Schüler die Kinder im Berkenschulzentrum betreut.

Selbstverletzendes Verhalten, Suizidgedanken und zahlreiche Konflikte

Die Holzgerlinger Schulsozialarbeiterinnen haben es immer häufiger mit schweren Fällen zu tun: darunter selbstverletzendes Verhalten, Suizidgedanken und viel Streit unter den Schülern. „Selbst Konflikte zu lösen fällt den Jugendlichen mittlerweile sehr viel schwerer als vor der Pandemie“, erzählt Kerstin Ederer. Zumeist wird der Streit auf digitale Plattformen ausgelagert: Bilder werden mit Photoshop bearbeitet, in Instagram-Lives ziehen Schüler über Mitschüler her.

Auch bei den jüngeren Kindern im Grundschulalter häufen sich die Probleme: „Viele können Grundemotionen wie Wut oder Angst gar nicht mehr benennen“, sagt Anna Sommer. Bereits in den fünften Klassen hätten die Lehrer mit aggressivem Verhalten von Schülern zu kämpfen. Früher hätten sich Probleme meistens kurz vor Klassenarbeiten oder Schulferien gehäuft, erzählt Glenda Almeida-Schüler. Seit das neue Schuljahr begonnen hat, scheinen sich die Schüler allerdings permanent im Ausnahmezustand zu befinden.

Jugendliche haben Fähigkeit verloren, untereinander Konflikte auszutragen

Warum das so ist, erklärt Michael Groh: „Das sind alles Phänomene, die man auf Corona zurückführen kann.“ Zwei Jahre lang haben Kinder und Jugendliche in wichtigen Phasen ihrer Entwicklung kaum soziale Kontakte gehabt. Dementsprechend hätten auch die Fähigkeiten der Jugendlichen gelitten, Konflikte untereinander auszutragen. „Die Effekte der Lockdowns sind deutlich spürbar“, sagt der Bereichsleiter. Auch die krisenhafte Gesamtlage spiele eine Rolle im Verhalten der jungen Menschen: Die Angst vor einer diffusen Bedrohung, wie sie die Pandemie hervorgerufen hat, spüren viele Jugendliche immer noch. Aber auch ganz konkrete Folgen der Energiekrise und Inflation beeinflussen den Alltag der Kinder. Weitaus mehr als in den vorigen Jahren haben es die Schulsozialarbeiterinnen mit Fällen der Kinderarmut zu tun: Einige hätten den ganzen Tag nichts zu essen, andere kein Geld, um in Vereine einzutreten oder an Praktika teilzunehmen.

Die Jugendarbeit passt sich an, vor allem im Programm des Jugendhauses W3. Während vor der Pandemie immer wieder Ausflüge oder gemeinsame Aktionen geplant wurden, ist das heute kaum noch möglich: Die Jugendlichen hätten zum Beispiel starke Probleme, sich verbindlich auf einen Termin festzulegen. Deshalb gibt es nun weniger feste Veranstaltungen, doch das Jugendhaus hat weiter die Türen für die jungen Leute geöffnet: Mittlerweile kommen sogar mehr Jugendliche ins Jugendhaus als noch vor der Pandemie, sagt die Jugendreferentin Franziska Enders.

Einen einfachen Ausweg aus der Situation gibt es wohl kaum. Holzgerlingen sei bereits gut aufgestellt, was die Jugendsozialarbeit betrifft, und mit dem Netzwerk, das das Waldhaus zur Verfügung stellt, sind im Kreis bereits zahlreiche Hilfssysteme etabliert, die es an anderen Orten in dieser Form nicht gebe, sagt Michael Groh.

Doch trotzdem ist die Not groß. Eine konkrete Erleichterung für die Schulsozialarbeiterinnen wären Schulpsychologen, die direkt an der Schule verfügbar wären. „Wir sind kein Ersatz für eine psychologische Beratung und können keine Diagnosen stellen“, sagt Kerstin Ederer. Ihre Aufgabe sei es, Beziehungen zu den jungen Leuten aufzubauen, herauszufinden, wo genau das Problem liegt, und dann an Hilfssysteme wie psychologische Beratungsstellen oder gar das Jugendamt weiterzuleiten. Doch genau hier hakt es: Viele Anschlussstellen sind überlastet – auf einen Therapieplatz warten Schülerinnen und Schüler zwischen sechs Monaten und drei Jahren.