Die Aufnahme vom Februar zeigt ein Flüchtlingsboot neben dem Frachtschiff „OOC Cougar“ Foto: dpa

Manchmal hat man den Eindruck, das Massengrab Mittelmeer sei zuallererst ein europäischer Skandal. Zuerst aber ist es vor allem das: eine afrikanische Schande, meint unser Kommentator Norbert Wallet

Berlin - Es ist bedrückend und beschämend, dass vor der Haustür Europas, im Mittelmeer, dessen Kultur als die Wiege von Menschenrecht und Humanität gilt, Flüchtlinge, die nichts anderes suchen als eine bessere Zukunft, als ihr Glück, ja oft nur ihr nacktes Überleben, zu Tausenden sterben. Dieses Massensterben ist vieles – ein Charaktertest für Politiker ist es auch.

Wer jetzt mit Patentrezepten wedelt, griffige Vorschläge aus der Tasche zieht, fertige Kataloge von Sofort-Programmen präsentiert und auf Knopfdruck mit schicken Formulierungen wie „maritime Rettungstruppe“ hantiert, als sei damit die alles gut machende Zauberformel gefunden, ist ein Heuchler. Diese Völkerwanderung nach Norden wird weitergehen. Das ist die Wahrheit.

Das ist keine Ausrede, um Hilfeleistung zu unterlassen. Was getan werden kann, um wenigstens den Schrecken auf dem Meer zu lindern, muss getan werden. Und tatsächlich ist es ein Vorgang von dröhnender Inhumanität, wenn die EU ein italienisches Rettungsprogramm durch eine Operation ersetzt, die sich „Triton“ nennt, und de facto die Bemühungen einstellt, aktiv nach Flüchtlingen auf dem Mittelmeer zu suchen. Und natürlich braucht es auch praxistaugliches Verwaltungshandeln: Dazu gehört endlich eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge in Europa. Übrigens: Erinnert sich noch jemand daran, mit wie viel Häme und Rassismus-Vorwürfen einst der SPD-Innenminister Otto Schily von den Bannerträgern politisch korrekter Gesinnung überzogen wurde, als er um die Jahrtausendwende forderte, schon auf afrikanischem Boden die Flüchtlinge aufzufangen und ihre Anträge zu bearbeiten?

Über die notwendigen Versuche hinaus, das tägliche Elend einzugrenzen, bleibt die Tatsache, dass der Strom der Flüchtlinge erst dann versiegt, wenn sich an seiner Quelle, seinen Ursachen etwas verändert. Die sind vielfältig: das eklatante Staatsversagen in den Ausgangsländern, grimmige Diktaturen wie Eritrea, Korruption und die Unfähigkeit, Reichtum gerecht zu verteilen. Manchmal hat man den Eindruck, das Massengrab Mittelmeer sei zuallererst ein europäischer Skandal. Zuerst aber ist es vor allem das: eine afrikanische Schande. Wo sind die Anstrengungen der Organisation afrikanischer Staaten, den Exodus zu stoppen? Aus dieser Verantwortung darf man Afrika nicht entlassen.

So richtig das ist – hinter diesem Versagen darf sich Europa, der ganze Westen nicht verstecken. Denn wahr ist auch das: Wo die Staatsmacht zerfällt, entsteht ein politisches Vakuum, das sich schnell füllt – mit kriminellen Elementen, mit Clans und Banden, Söldnern und Stammesfürsten. Es ist eine Sache, einen widerwärtigen Diktator wie Muammar al-Gaddafi wegzubomben. Dafür gibt es telegenen Beifall zur besten Sendezeit. Aber es ist eine ganz andere, aus dem entstehenden Chaos wieder ein Minimum an Ordnung zu schaffen. Heute ist in Libyen auch der IS an der Schlepperkriminalität beteiligt. Jene islamischen Terroristen, die sich im Irak breitmachen konnten, weil ein beratungsresistenter US-Präsident alle Warnungen in den Wind schlug und ohne Not einen Krieg entfesselte, dessen Folgen unabsehbar waren und noch immer sind. Das Beispiel Libyen zeigt, dass der Westen wenig daraus gelernt hat.

Man mag finden, dass das jetzt nachrangige Gedanken sind, da die dringende Nothilfe an erster Stelle stehen muss. Das ist zweifellos richtig. Aber sie zeigen doch, dass alle in der Verantwortung stehen: der arme Süden und der reiche Norden. Es werden noch mehr Flüchtlinge kommen. Auch zu uns. Es ist unsere Pflicht, ihnen zu helfen. Da darf sich niemand einschüchtern lassen.