Das Haus in Aldingen, in dem das Kind tot aufgefunden wurde. Foto: dapd

Der einsame Tod eines Kleinkinds in Aldingen muss Konsequenzen haben, sagt Jan Sellner.

Aldingen - Tod durch Vernachlässigung ist ein unvorstellbarer Befund. Im Jahr 2012, in einem Land größten äußeren Wohlstands, in einer an sich wohlbestellten Gemeinde, stirbt am Pfingstsonntag, alleine gelassen mit seinen Geschwistern, ein kleines Kind. Unvorstellbar sind die Umstände des Todes. Die alleinerziehende dreifache Mutter über Nacht abwesend, der Ort, der dem Mädchen Schutz und Geborgenheit geben sollte, vermüllt. Der Obduktionsbericht vermerkt als Todesursache Herz-Kreislauf-Versagen. Darüber hinaus wurde ein „deutlich reduzierter Pflegezustand und ein extrem reduzierter Ernährungszustand“ festgestellt. Ebenso unvorstellbar ist, dass dieses Sterben unbemerkt geblieben ist. Der letzte Besuch eines Jugendamt-Mitarbeiters datiert vom März dieses Jahres. Ergebnis: Die Wohnung sauber, die Kinder wohlauf, keine Auffälligkeiten entdeckt. Anhaltspunkte, die auf ein Versäumnis der Behörde schließen lassen, gibt es laut Staatsanwaltschaft nicht.

Und obwohl doch anscheinend alles getan worden ist, obwohl Mitarbeiter des Jugendamts Tuttlingen die junge Mutter mehrfach unangekündigt besucht hatten, stirbt am Pfingstsonntag die knapp zweijährige Maja verwahrlost und ausgezehrt. Angesichts dessen erscheint der Behördenapparat bis hinauf zum Sozialministerium, das formal keine Zuständigkeit besitzt, weil die Kreisjugendämter den Landratsämtern unterstehen, wie ein System der organisierten Ratlosigkeit. Alle Fachkompetenz, alle Vorschriften haben sich als nutzlos erwiesen. Behördenvertreter ringen nach Worten und finden keine Erklärung. In der vielfach geäußerten Bestürzung über den Tod des Mädchens spiegelt sich ein unbestimmtes Versagen.

Es genügt nicht, Bestürzung zu äußern

Die Öffentlichkeit erlebt ein trauriges Déjà-vu. Denn das Unvorstellbare und die anschließende Ratlosigkeit wiederholen sich. So reiht sich Aldingen ein in eine lange Liste ähnlich gelagerter Fälle von Vernachlässigung mit dramatischen Folgen. Fast nie konnten Behörden Versäumnisse nachgewiesen werden. Meist kam die Meldung über tote Kinder, die man in Obhut wähnte, wie aus dem Nichts. Das legt den Gedanken nahe, dass das Netz der Kinderfürsorge noch immer lückenhaft ist.

Deshalb genügt es nicht, Bestürzung zu äußern. Es braucht darüber hinaus Besinnung und die Auseinandersetzung mit drängenden Fragen: Wie stellt man die Betreuung von latent gefährdeten Familien nachhaltig sicher? Wie schafft man neben der notwendigen Kontrolle Vertrauen? Wie gestaltet man die Einladung zu Beratung und Hilfe so überzeugend, dass sie von überforderten Erziehungsberechtigten nicht ausgeschlagen wird?

In diesem Zusammenhang verdient ein alter Vorschlag der Landesärztekammer Beachtung: die flächendeckende Schaffung von speziellen Ambulanzen an Kinderkliniken, die mit jeweiligen Jugendämtern kooperieren. Das modellhafte Beispiel des „Kinderschutzteams“ am Stuttgarter Olgahospital zeigt, dass damit mehr Familien erreicht werden können. Die Landesregierung will davon bisher jedoch so wenig wissen wie die Vorgängerregierungen.

Behörden und Einrichtungen alleine verhindern Fälle wie in Aldingen allerdings nicht. Es braucht mehr, um auszuschließen, dass Kinder unbemerkt zugrunde gehen. Es braucht aufmerksame Verwandte und Freunde. Es braucht vor allem auch Um- und Außenstehende wachen Auges. Die „Kultur des Hinsehens“ existiert häufig nur als Schlagwort. Im Kern drückt es das Notwendige aus.