Nach dem Frühstück ist Küchendienst: Albernheiten gehören für die 14 Jungs dazu, sie sollen dabei aber immer fair bleiben Foto: Leif Piechowski

Egoismus und Überheblichkeit sind selten gute Ratgeber. Das lernen jetzt 14 Jungs im Alter zwischen zehn und 13 Jahren beim Projekt „Kreativ Kicker“. Fußball ist für sie der Köder mitzumachen. Doch es geht auch um Bildung, Umgang und Eingliederung.

Nürtingen/Kirchheim - Jeden Vormittag werden nach dem gemeinsamen Frühstück die Punkte vergeben. Das ist für die Jungs aus Kirchheim spannend, aber auch aufschlussreich. Denn dann bewerten die vier Betreuer vom Fachdienst Jugend, Bildung, Migration der Bruderhausdiakonie, wie sich jeder Einzelne am Vortag benommen hat. Und jene sechs, die am Schluss die meisten Punkte haben, dürfen zwei Tage lang ins Trainingslager des VfB Stuttgart und werden von Ex-Nationalspieler Günther Schäfer betreut, der jetzt die VfB-Fußballschule leitet.

Kein Wunder, dass sich alle anstrengen, die Regeln einzuhalten, die gleich am Eingang an der Wand hängen: keine Schimpfwörter, keine Keilereien, Müll aufräumen, nichts kaputt machen, Respekt zeigen, Fair Play beim Fußball, Anweisungen befolgen und keine Handys zwischen 8.50 und 16.30 Uhr. Wer das befolgt, kassiert automatisch seine fünf Punkte. Wer besonders angenehm auffällt, etwa anderen die Türe aufhält und mal Krümel zusammenfegt, bekommt einen Zusatzpunkt. Und trotzdem stehen in der Liste immer wieder nur drei oder häufig sogar null Punkte.

Alle Teilnehmer stammen aus schwierigen Elternhäusern, wachsen bildungsfern auf, gut die Hälfte hat einen Migrationshintergrund. Ausgewählt für das Projekt wurden sie vom Netzwerk der Sozialarbeiter in Kirchheim unter Teck. Einigen der Jungs fällt es sichtlich schwer, sich an die Regeln zu halten. „Spaß ist, wenn alle lachen, nicht wenn einer lacht und sich über die anderen erhebt“, muss sich Muhamed von Projektleiter Christian Wochele sagen lassen. „Es ist kein Spaß zu sagen, der liest wie ein Depp oder kickt wie ein Depp“ – Beleidigungen seien nicht witzig. Muhamed bekommt nur drei Punkte. Auch Adrian büßt einen Punkt ein – weil er bei einem Vortrag eingeschlafen ist. „Das ist respektlos“, sagt Wochele. Ein anderer verliert einen Punkt wegen Angeberei. Demonstrativ hatte er sein teures Handy auf den Tisch gelegt.

Zwei Jungs aus dem ursprünglichen Team durften nur bis zur Projektmitte bleiben: Nach den Osterferien mussten sie gehen, weil sie sich über jegliche Ordnung hinwegsetzten. Zwei neue stießen an ihrer Stelle in den Pfingstferien dazu. „Vier Teilnehmer sind in Erziehungshilfemaßnahmen, das ist schon ein wilder Haufen hier“, sagt Christian Wochele.

So mancher, der auf dem Fußballfeld eine große Klappe hat, wird beim Vorlesen kleinlaut: Ein Teil der Jungs besucht die Förderschule und tut sich mit dem Lesen schwer. Das will das Projekt „Kreativ Kicker“ ändern, das zur Aktion „kicken & lesen“ der Baden-Württemberg-Stiftung des VfB und der Stuttgarter Nachrichten gehört. Kicken soll der Einstieg sein, Leselust am Ende der Projekttage stehen. Doch bis dahin ist es ein weiter Weg, wie sich in der Gruppe zeigt. Nach einer halben Seite Vorlesen sind einige so erschöpft, dass das Buch weitergegeben wird. Jeden Tag wird ein Stück weitergelesen in Lieneke Dijkzeuls Roman „Ein Traum vom Fußball“, der den Buben eigentlich gefällt. „Aber es ist schwer, den Spannungsbogen eine Stunde lang aufrechtzuhalten“, sagt Sozialpädagoge Patrick Maser.

Auch das Zeitunglesen ist allen fremd. Jeden Tag nehmen sich zwei Jungs die aktuelle Ausgabe der Stuttgarter Nachrichten mit nach Hause. Am nächsten Tag sollen sie den Inhalt eines Artikels ihrer Wahl den andern vorstellen. Die meisten tun sich schwer, hatten nie eine Zeitung in der Hand. Trotzdem: Auch da finden sie über den Sport den Zugang und erzählen, was sie interessiert hat. So sagt etwa André in der Abschlussrunde: „Es ist schon mindestens ein Jahr her, dass ich ein Buch gelesen habe, aber nach dem Projekt fange ich wohl ein neues an.“

Aus den zwei Wochen über Ostern und Pfingsten sollen die Jungs aber noch mehr nach Hause nehmen. So erfahren sie viel über gesunde Ernährung und bekommen solche auch serviert. Christian Wochele holt die Zutaten jeden Morgen frisch bei einem türkischen Händler. Zum Frühstück gibt es Vollkornbrot, Marmelade, Käse, Wurst und Kakao, mittags Tomaten-Spaghetti, Köfte oder Rahmgeschnetzeltes. Die Jungs sind voll dabei, beim Tischdecken, Kochen, Abräumen. Dabei geht es erstaunlich ruhig zu.

Ob sie irgendwas von dem Gelernten zu Hause einbringen können, bleibt ungewiss. Fest steht aber, dass einigen Teilnehmern das Projekt in so guter Erinnerung geblieben ist, dass sie sich Jahre später als Mentoren dafür melden. Und das liegt nicht nur daran, dass jeden Mittag gekickt wird. So sind trotz der strengen Regeln während des Projekts alle begeistert. „Klasse, dass ich einen Platz gekriegt habe – zu Hause ist es langweilig, hier ist viel mehr los“, sagt Nils. Mazen freut sich, dass sich jemand Zeit für ihn nimmt, was offenbar nicht oft der Fall ist. Und Abdu sagt: „Hier ist es viel besser, als nur zu Hause am PC zu sitzen und zu zocken.“