Arztpraxen sind für Rollstuhlfahrer oft nicht zugänglich, kritisiert der Bericht (Symbolbild). Foto: Imago/Sven Simon/FrankHoermann

Das Deutsche Institut für Menschenrechte kommt zu dem Schluss, dass Menschen mit Behinderung in Deutschland weiterhin nicht gleichberechtigt leben können. Es kritisiert Sonderstrukturen wie Förderschulen und Behinderten-Werkstätten.

. Menschen mit Behinderungen werden in Deutschland weiterhin daran gehindert, gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Laut einer unabhängigen Expertise des Deutschen Instituts für Menschenrechte (DIMR) tun Bund, Länder und Kommunen nicht genug, damit sich das ändert. In den vergangenen Jahren hätten die Anstrengungen, die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN) umzusetzen, sogar nachgelassen, bemängelt die zuständige Monitoring-Stelle des Instituts in ihrem aktuellen Bericht, der am Dienstag in Berlin vorgestellt wurde.

Der Bericht kritisiert vor allem die in Deutschland schon lange existierenden Sonderstrukturen. Das sind die Förderschulen, auf die mehr als die Hälfte aller Kinder mit Behinderungen gehen, die Behinderten-Werkstätten für rund 300 000 Menschen und große stationäre Wohneinrichtungen, in denen 160 000 Erwachsene leben. „Es wird viel über Inklusion diskutiert, konsequent in die Tat umgesetzt wird sie nicht“, erklärte der Leiter der Monitoring-Stelle, Leander Palleit.

Keine Regelungen für Privatwirtschaft und Gesundheitswesen

Völlig unzureichend sind dem Bericht zufolge auch die Regelungen für die Privatwirtschaft und das Gesundheitswesen. Weil es nur für öffentliche Einrichtungen gesetzliche Verpflichtungen zur Barrierefreiheit gibt, sind höchstens zehn Prozent der Arztpraxen in Deutschland für Menschen im Rollstuhl zu erreichen. Damit werde ihre freie Arztwahl eingeschränkt, kritisiert der Bericht.

Deutschland hat sich 2009 zur Umsetzung der UN-Konvention verpflichtet. Im Kern garantiert sie allen Menschen mit Behinderungen Selbstbestimmung über ihr Leben, Wohnen und Arbeiten und die vollständige Inklusion in Schule und Kindergarten, im Arbeitsleben, in der Freizeit sowie im Gesundheits- und Sozialsystem.

Die behindertenpolitische Expertin der Grünen-Bundestagsfraktion, Corinna Rüffer, erinnerte daran, dass der UN-Fachausschuss Deutschland bereits vor acht Jahren aufgefordert hat, Sonderschulplätze und die speziellen Behinderten-Werkstätten zugunsten inklusiver Förderung in Normalschulen oder am Arbeitsplatz zu reduzieren. Rüffer sagte, es müsse endlich neuer Schwung in die Verwirklichung der Inklusion kommen. Förderschulen bildeten den Anfang einer „Exklusionskette“: Drei Viertel der Jugendlichen verließen sie ohne anerkannten Abschluss und landeten anschließend in einer Behinderten-Werkstatt ohne Aussicht, jemals ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Dem DIMR-Bericht zufolge gelingt es nur einem Prozent der Werkstätten-Beschäftigten, in ein reguläres Arbeitsverhältnis zu wechseln.

Das Deutsche Institut für Menschenrechte ist unabhängig und wird vom Bundestag finanziert. Zu seinen Aufgaben gehört es, regelmäßig die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland zu überprüfen. Zusätzlich zum Regierungsbericht erstellen das Institut und Betroffenenverbände Parallelberichte, die Erkenntnisse aus Sicht der Zivilgesellschaft liefern. Alle Vertragsstaaten der Behindertenrechtskonvention berichten dem zuständigen UN-Ausschuss in Genf über ihre Fortschritte. Deutschland wird Ende August zum zweiten Mal seit 2009 geprüft.

Bundesregierung muss Empfehlungen der UN umsetzen

Die Bundesvorsitzende der Lebenshilfe und frühere Gesundheitsministerin Ulla Schmidt erklärte: „Menschen mit Behinderung haben noch lange nicht die gleichen Möglichkeiten wie Menschen ohne Behinderung.“ Schmidt forderte die Bundesregierung auf, die Handlungsempfehlungen des UN-Ausschusses ernstzunehmen und umzusetzen.

Nach Angaben des Statistischen Bundesamts lebten Ende 2021 rund 7,8 Millionen schwerbehinderte Menschen in Deutschland, das sind 9,4 Prozent der Bevölkerung. Darunter fallen alle Personen mit einem Behinderungsgrad über 50, die einen Schwerbehindertenausweis haben. Nur drei Prozent der Betroffenen sind von Geburt an behindert. Neun von zehn schweren Behinderungen sind Krankheitsfolgen.