Rodin Saouan, Flüchtling aus Syrien, zeigt auf seinem Smartphone ein Selfie-Foto, das er zusammen mit Angela Merkel gemacht hat. Foto: dpa

Warum dieses Risiko? Warum setzt die Regierungschefin in der Flüchtlingspolitik das Land einer solche Belastungs­probe aus? Da spielt mehr mit als kühle Rationalität – viel mehr.

Berlin/Oslo - „Ein großer Teil der Mitglieder und Wähler unserer Partei fühlt sich von der gegenwärtigen Linie der CDU-geführten Bundesregierung in der Flüchtlingspolitik nicht mehr vertreten.“ Ein hammerharter Satz. Ein Misstrauensvotum. Nicht aus Führungsgremien der Union. Nein, das nicht. Schlimmer – vom Rückgrat der Partei. Kreisvorstände, Bürgermeister, Landtagsabgeordnete aus acht Bundesländern haben einen Brief an die Kanzlerin geschickt. Wohlgemerkt an dieselbe Angela Merkel, die manche schon als kommende Friedensnobelpreisträgerin sehen. „Nächstenliebe ist keine Gefühlsduselei und kein Gutmenschentum, sondern eine Pflicht, denen zu helfen, die in Not sind.“ Das sagt Heiner Geißler. Vermutlich ist er gerade nicht sehr beliebt bei den Unterzeichnern des Briefes.

Kein Zweifel, Merkel spaltet das Land. Das ist eine ganz neue Erfahrung. In den zehn Jahren ihrer Kanzlerschaft war im wirtschaftlich kerngesunden Deutschland bei Merkel-Freunden und -Gegnern eher so ein schläfrig-behäbiges Gefühl verbreitet, dass das Land bei ihr doch „irgendwie“ in ganz guten Händen sei. Nun hat sie sich so sehr aus der Deckung gewagt wie nie in ihrer Kanzlerschaft. Das macht sie angreifbar. Ein leichtes Ziel auch für diejenigen, die gern in den Rücken schießen.

Warum diese Alleingänge?

Aber ob Freund oder Gegner, in einem sind sie alle vereint: im verwunderten Grübeln darüber, was die Regierungschefin nur antreibt. Warum dieses gewaltige Risiko? Warum diese Alleingänge? Diese rigorose Abkehr von ihrem Stil des Zuwartens und Moderierens?

Vielleicht ist es ja gar keine Abkehr. Vielleicht ist ihr Stil nur verkannt worden. Auch von den ganz feinen Herren, die das Patent auf die Entschlüsselung des Zeitgeistes zu besitzen glauben. „Lethargokratisch“ nennt Deutschlands Salon-Philosoph Peter Sloterdijk ihre Art, Politik zu betreiben. Für diesen sei „typisch, dass Politiker das Aussitzen von Problemen zu einer veritablen Technik entwickeln“. Das übersieht nur ein Detail: Angela Merkel ist Chefin einer konservativen Partei. Linke Politiker stürmen die Macht mit der glutvollen Verheißung auf Veränderung. Sie wollen reformieren, „mehr Demokratie“ wagen, verändern, gestalten, umbauen, erneuern. Da alles mit dem Pathos behaucht, dass alles besser, gerechter, anders werden wird.

Flüchtlingsströme als Störfall?

Konservative ticken da ganz anders. Sie glauben nicht ans Paradies auf Erden und sind schon froh, wenn der Laden irgendwie läuft. Erst wenn es stockt, wenn sich eine Störung bemerkbar macht, tritt für sie der Handlungsfall ein. Politik ist Organisation, ist das pragmatische beiseiteräumen von Problemen. Nicht so sexy, aber mitunter ziemlich wirkungsvoll. Dann kann es plötzlich rund gehen. Merkel hat das schon mehrfach durchexerziert. Bei der Einlagesicherung in der Bankenkrise zum Beispiel, bei der Griechenland-Rettung auch. So gesehen sind die Flüchtlingsströme auch nur ein Störfall. Mit Lethargie, wie Sloterdijk nahelegt, hat das alles nichts zu tun.

Die ganze Wahrheit ist das aber längst nicht. Merkel, die Physikerin, die kühle analytische, streng rationale Analytikerin des politischen Prozesses – das Bild benötigt Ergänzungen. Da fließt viel mehr Irrationales ein als sie zugeben würde. Viel mehr Emotion.

Merkel hatte viel Zeit, Schröder zu beobachten

Bewunderung zum Beispiel. Neulich hat sie die Biografie Gerhard Schröders vorgestellt. Sie hätte das nicht tun müssen. Hat sie aber. Warum eigentlich? Sie hat sich lange an Schröder abgearbeitet. 2002 ließ sie dem damaligen CSU-Chef Edmund Stoiber den Vortritt bei der Kanzlerkandidatur. Sie sah für sich keine Chance gegen Schröder, hat sie im Umfeld der Buchvorstellung zugegeben. Sie hatte viel Zeit, Schröder zu beobachten. Sie nennt ihn „einen der größten Wahlkämpfer, den Europa je gesehen hat“. Sie hat seine überraschenden Volten gesehen, seine Meisterschaft in Krisenzeiten – die Oderflut spülte ihn zurück ins Amt. Seine Agenda-Politik hat sie stets gelobt. Da hatte er sich gegen die eigene Partei gestellt, hat das Risiko auf sich genommen, die Macht zu verlieren. Es gehört keine große Kunst dazu, Parallelen zu sehen. In Krisenzeiten unbeirrt zu sein, auch wenn die Partei unruhig wird – es ist nicht fernliegend zu glauben, dass Merkel gerade jetzt daran Maß nimmt.

Aber das genaue Studium des Vorgängers ist noch immer sehr rational. Aber Merkels Handeln ist auch von anderen Elementen beeinflussbar: von der Macht der Bilder zum Beispiel. Als in Fukushima Reaktoren brannten, sagte Merkel, sie habe dazulernen müssen, wie verletzlich die Atomtechnik sein kann. Glaubwürdig war das nie. Naturwissenschaftlich hat das Unglück keine einzige neue Erkenntnis gebracht, schon gar nicht für eine Physikerin. Aber die Gewalt der Bilder entfaltete ihre Wirkung auf die deutsche Öffentlichkeit. Der musste sie entgegentreten. Die zwang sie zum Handeln.

Erfahrung der Endphase der DDR

Ist es diesmal anders? Nicht so ganz. Als die Nachricht vom Tod Dutzender Flüchtlinge in einem Kühllaster auf einer Autobahn bei Wien durch die Medien ging, sagte Merkel, das sei „eine Mahnung, rasch zu handeln“. Das war bereits am 27. August. Und dann kamen die Bilder der Flüchtlinge aus Ungarn. Ihre Verzweiflung, das Rütteln an Zäunen, die Enge, die Not. Und auch diese Bilder entfalteten mediale Macht.

Und Merkel werden sie – eine noch tiefere Ebene ihrer Motive – an andere Bilder erinnert haben. Vor zwei Wochen führten die Bundes- und Landtagsabgeordneten aus Baden-Württemberg Klage gegen ihre Asylpolitik. Sie konterte in der Runde mit einem unerwarteten Hinweis. Sie sagte: „Ich weiß noch gut, dass auch Deutsche, die auf der Flucht waren, schon mal an ungarischen Zäunen standen und gebetet haben, hindurch zu gelangen.“ Man mag das naheliegend oder abwegig finden, aber bestreitbar ist es wohl kaum, dass die Erfahrung der Endphase der DDR sich prägend und handlungsleitend auf die Ungarn-Entscheidung von Mitte September ausgewirkt hat.

„Angst ist immer ein schlechter Ratgeber“

Und wenn es schon um ihre DDR-Vergangenheit geht: Merkel wuchs in einem evangelischen Pfarrhaushalt auf. Das muss man nicht überhöhen. Aber sehen sollte man es. „Wie wollen Sie Europa vor Islamisierung schützen“, wurde sie kürzlich auf einer Podiumsdiskussion in der Schweiz gefragt. Ihre Antwort war schlicht: „Angst ist immer ein schlechter Ratgeber.“ Statt sich zu beschweren, dass sich Muslime im Koran besser auskennen als Deutsche in der Bibel, sollte man „den Mut haben, zu sagen, dass wir Christen sind“. Und für den Alltag heiße das: „Haben wir dann aber auch die Tradition, in einen Gottesdienst zu gehen oder ein bisschen bibelfest zu sein.“ Vielleicht muss man das mitdenken, wenn man sich an ihre Antwort auf einige Vorhaltungen von CSU-Chef Horst Seehofers erinnert, wonach es nicht mehr ihr Land sei, wenn sie sich dafür entschuldigen müsse, in einer humanitären Notsituation ein freundliches Gesicht zu zeigen.

Es mag andere Beweggründe geben. Rationalere. Zum Beispiel die unverhoffte Chance, nach den sehr harten Verhandlungen mit Athen Deutschland wieder in einem besseren Licht erscheinen zu lassen. Und womöglich hat Merkel auch die historische Dimension im Blick. Mitte des vergangenen Jahrhunderts waren es Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland, die auf den guten Willen aufnehmender Nationen angewiesen waren. Es gibt einige Hinweise Merkels darauf.

Aber es sind eben auch diese nicht rationalen, sondern emotionalen oder wertgeleiteten Momente, die Merkels Politik derzeit erklären. Nicht jeder folgt ihr dabei. Und immer weniger in der eigenen Partei.