In der Pandemie boomten die Lieferdienste für Lebensmittel, jetzt ist der Konkurrenzkampf gnadenlos. Das einstige Aushängeschild Gorillas schließt in Stuttgart, dafür expandiert Picnic im Südwesten. Wagt bald Aldi Süd eine Offensive?
Die Nachricht an die Stuttgarter Gorillas-Kunden kam überraschend und lapidar. „Alle guten Dinge müssen einmal enden“, teilte der Schnelllieferdienst von Lebensmitteln jüngst mit. Jetzt sei es Zeit, Tschüss zu sagen – in Berlin und anderswo sei man ja noch am Start.
Tschüss und weg – das gilt in diesem Jahr für viele Anbieter im sogenannten Quick Commerce, wo sich Verbraucher via App Lebensmittel innerhalb einer Stunde liefern lassen können. In der Coronapandemie boomte das neue Geschäft vor allem bei den jungen Kunden in den Großstädten, während Ältere über die teils zu rasanten Fahrradkuriere schimpften. Inzwischen gehen die Leute wieder zum Supermarkt um die Ecke, und die Anbieter reduzieren ihre Angebote.
Der Branchenstar Gorillas schwächelt – wie viele andere Dienste auch
Auch der einstige Branchenstar Gorillas, den es nach der Übernahme durch das türkische Unternehmen Getir ohnehin nur noch als Marke gibt, ist in Deutschland nur noch in sechs Großstädten aktiv und baut Beschäftigte ab. Wie viel und ob noch weitere Standorte geschlossen werden, will das Unternehmen auf Anfrage nicht sagen. Wieweit der größte Schnelldienst-Konkurrent Flink, an dem Rewe beteiligt ist, davon profitieren kann, ist bei Experten umstritten. Bisher schreibt jeder der Dienste teils hohe Verluste: Die Kosten für die Lagerung, Transport und Auslieferung der Waren lassen sich bei normalen Preisen selbst in den Ballungsräumen kaum einspielen.
„Viele Essenslieferdienste werden aus dem Markt ausscheiden“, prophezeit Handelsexperte Jörg Funder von der Hochschule Worms. Ähnlich sieht es Lebensmittelhandelsexperte Stephan Rüschen von der Dualen Hochschule Baden-Württemberg: „Die Investoren haben zu schnell zu viel Geld hineingebuttert und das Wachstum zu optimistisch gesehen.“
Dennoch gehen beide Experten davon aus, dass die Branche der Lebensmittellieferdienste noch eine Zukunft hat. Einen Marktanteil von zehn Prozent am Lebensmitteleinzelhandel bis 2030 erwartet Rüschen in Deutschland. Funder dagegen glaubt nicht, dass der Anteil von derzeit rund zwei Prozent langfristig die Fünf-Prozent-Marke überschreiten kann – was bei einem Milliardenmarkt dennoch beträchtlich sei. Vor allem einen Dienst sehen beide Marktkenner als künftigen Dominator: Picnic, ein Unternehmen aus den Niederlanden. „Picnic hat als einziges Unternehmen ein funktionierendes Geschäftsmodell“, betont Funder. „Sie könnten profitabel werden, weil sie derzeit alles richtig machen.“
Tatsächlich hat sich Picnic seit dem Start 2015 auf online bestellte Lebensmittellieferungen spezialisiert und auf diese Weise kostengünstig aufgestellt. Eine Flotte von mittlerweile 1400 eigens konstruierten Elektrovans liefert am Vortag bestellte Waren nach dem alten Milchmann-Prinzip von Haus zu Haus. Die Kunden erhalten die ungefähre Zeitangabe, die Route selbst ist auch mithilfe Künstlicher Intelligenz optimiert. Picnic setzt dabei auf sogenannte City-Hubs: kleine Gewerbehallen, in denen die Waren von großen Verteilzentren ankommen, kurz gelagert und auf E-Vans verladen werden. Damit sich die Hubs rechnen, müssen 40 000 Bürgerinnen und Bürger innerhalb von 15 Fahrminuten erreichbar sein, erklärt ein Unternehmenssprecher.
Im Südwesten will Picnic mehr als 2000 Jobs schaffen
Schritt für Schritt hat sich Picnic in den vergangenen Jahren vor allem in Nordrhein-Westfalen ausgebreitet und zieht seit diesem Frühjahr das Tempo an. Nach Hamburg, Berlin und Bremen werden jetzt Standorte in Hessen, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg aufgebaut, diesen Mittwoch geht es in Heidelberg los. „In Baden-Württemberg möchten wir mehr als 2000 Arbeitsplätze schaffen“, kündigt Picnic unserer Zeitung an. Derzeit stelle man bundesweit jede Woche 200 bis 300 Beschäftigte ein. Das Gros seien studentische Beschäftigte, die die E-Autos fahren. Vollzeitbeschäftigte arbeiten vor allem in den Lagern.
Picnic rechnet damit, dass der Dienst in der Region Stuttgart „eher in einigen Monaten denn in Jahren“ startet. Ein Problem sei die Standortsuche. Um die begehrten innenstadtnahen Gewerbehallen konkurrierten viele Onlinedienste, außerdem zögen sich die Genehmigungsverfahren oft hin. Der Picnic-Geschäftsführer Frederic Knaudt gibt sich dennoch selbstbewusst: Man wolle langfristig jeden zweiten Verbraucher in Deutschland erreichen, ein neuer Standort sei in zwölf bis 18 Monaten profitabel. „Unsere Lieferkette ist günstiger als der Betrieb eines großen Filialnetzes.“
Damit attackiert Picnic auch den derzeitigen Marktführer Rewe, der in rund 90 Städten mit mehr als 50 000 Einwohnern Lebensmittel ausliefert, darunter auch in den Regionen Stuttgart und Mannheim. Man nutze eigene Fahrzeuge, die Fahrer seien fest angestellt, betont Rewe – und dass man weiter expandiere.
Die Expansionspläne von Picnic und Rewe rufen auch andere Einzelhandelsriesen auf den Plan, die bisher mit Lebensmittellieferungen nichts am Hut hatten. Aldi Süd testet seit wenigen Wochen in drei Städten im Ruhrgebiet seinen Lieferdienst meinAldi – und kopiert dabei offensichtlich das Picnic-Prinzip. Auch hier fahren E-Lieferwagen auf festen Routen von Haus zu Haus. Der Mindestbestellwert für die Lieferungen liegt hier bei 20 Euro, Lieferungen ab 50 Euro sind kostenlos. Picnic liefert erst ab einem Bestellwert von 35 Euro, dafür generell kostenlos.
Der Test sei lokal und zeitlich begrenzt, heißt es bei Aldi. Und doch schaut nicht nur Konkurrent Lidl, sondern die gesamte Branche auf Aldis Test. „Sollte Aldi Erfolg haben, könnte es für den gesamten Discount und damit für den kompletten Lebensmitteleinzelhandel eine Rolle spielen“, betont Rüschen.
Auch Rewe und Edeka sind bei der Lebensmittellieferung aktiv
Rewe
Rewe ist ein Pionier bei der Lebensmittellieferung an Haushalte, die erste Lieferung startete 2011. Mittlerweile liefere der unternehmenseigene Dienst in rund 90 Städten mit mehr als 50 000 Einwohnern aus, sagt ein Sprecher. Eine zentrale Rolle spielen die großen Logistikzentren für Lebensmittel, Food-Fulfillment-Center genannt. Deutschlandweit betreibt Rewe derzeit in den Metropolregionen davon sechs, jüngst kam ein siebtes in Leipzig dazu.
Edeka
Bei Edeka hängt die Auslieferung vom Engagement der einzelnen Händler ab. In Baden-Württemberg nutzten die Kaufleute in der Regel die Onlineplattform von Edeka Südwest, teilt ein Sprecher mit. Der Edeka-Verbund im Südwesten beliefert auch die Fulfillment-Center des Lieferdienstes Picnic.