Jean-Baptiste Joly als Gast unserer Reihe „Über Kunst“ in der Galerie Klaus-Gerrit Friese Foto: Steffen Schmid

Undenkbar? Realität. Gründungsdirektor Jean-Baptiste Joly verlässt nach 29 Jahren die Akademie Schloss Solitude. „Stuttgarter Nachrichten“-Autor Nikolai B. Forstbauer würdigt „einen Schrittmacher“.

Stuttgart - Den Kopf leicht zur Seite geneigt, der Blick betont aufmerksam – buchstäblich mit jeder Wimper zeigt Jean-Baptiste Joly Aufmerksamkeit. Die eigene Sicherheit gibt er dabei nie auf: Die Arme vor der Brust verschränkt, die Finger der rechten Hand bei eigenen Äußerungen stets in Bewegung – dieser Mann weiß um seine Wirkung.

Akademie Solitude – ein Mosaikstein der Späth-Ära

Jean-Baptiste Joly? Seit 1. Januar 1989 ist er Direktor der Akademie Schloss Solitude. Gründungsdirektor einer Künstlerförder-Einrichtung nach dem Motto des damaligen Ministerpräsidenten Lothar Späth (CDU): Eine Idee haben, eine Anschubfinanzierung bereit stellen, dem Gründungsteam vertrauen.

High Tech und High Culture – Späth hat sich damit keineswegs nur Freunde gemacht. Für die Idee der 1989 realisierten Künstlerakademie auf dem Areal von Schloss Solitude fließt Lottogeld. Vier Millionen Mark (annähernd zwei Millionen Euro) aus der „Rubbelstar“-Lotterie bilden den Grundstock der Akademie Schloss Solitude als Stiftung des öffentlichen Rechts.

Hohe Ansprüche

Die notwendige Vision hat Jean-Baptiste Joly. 1951 in Paris geboren, arbeitet er nach einem Germanistikstudium in Paris und Berlin zunächst als Deutschlehrer, um von 1983 an eine erste Idealbühne für sein Ideal eines grenzüberschreitenden Miteinanders zu lenken. Joly macht das Institut Francais in Stuttgart zu einem Impulsgeber aktuellen Denkens. Das weckt Interesse – und macht mutig. Das Ziel der Akademie Solitude? „Es gibt“, sagt Jean-Baptiste Joly 1989, „zur Zeit in ganz Europa keine Einrichtung, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Künstler einzuladen, für längere Aufenthalte, die Begegnungen kunstspartenübergreifend zu organisieren und Kontakte mit der Öffentlichkeit zu ermöglichen“. Einzigartig – das ist, das bleibt die Leitlinie für Solitude.

Stipendiaten bleiben der Akademie verbunden

Auch Joly bleibt. Nutzt das zehnjährige Bestehen der 1990 eröffneten Akademie im September 2000 für kräftigen Trommelwirbel. Das Echo kommt nahezu aus aller Welt. Wer auf Solitude lebt und arbeitet, bleibt der Einrichtung verbunden. „Der Aufenthalt“, erinnert sich die Schriftstellerin Karen Duve, „war ein bisschen wie im Film ,Feuerzangenbowle’ – Internatsleben in einem Alter, in dem man die Vorteile solchen Lebens zu schätzen weiß.“

Überzeugter Europäer

Netzwerker, Vordenker – es gibt viele Etiketten für Jean-Baptiste Joly. Ob sie alle passen? Eines bleibt richtig: Europäer. „Wenn ich mich in Stuttgart an Debatten beteilige“, sagt er 2012 unserer Zeitung, „bin ich Stuttgarter, wenn ich an einem Symposium mit Deutschen, Griechen und Franzosen in Athen teilnehme, bin ich Europäer, und wenn ich am Deutsch-Französischen Kulturrat in Berlin teilnehme, bin ich selbstverständlich auf deutscher Seite.“

Und weiter: „Beim täglichen Lesen meiner Tageszeitung ,Le Monde’ und beim täglichen Lösen des ausgeklügelten Kreuzworträtsels bin ich ganz der Franzose. Die mentale Karte, die man im Kopf hat, ist viel komplizierter geworden: Wohnort und Steuern hier, Bürgerrechte dort, Verwandtschaft in einem dritten Land. Diese komplexe Realität teilen sehr viele Menschen in Europa.“

Europa vergibt Chancen

Aber glauben sie auch so an Europa wie Jean-Baptiste Joly? „Die Europäische Union“, antwortet dieser jetzt, „hat ein katastrophal negatives Erscheinungsbild in der europäischen Bevölkerung und ist leider nicht in der Lage, das Ideal, das es darstellen könnte, zu vermitteln“.

Gibt es Hoffnung? Joly antwortet mit einer Gegenfrage: „Wussten Sie, dass neun Millionen Europäer in einem anderen Land der EU leben? Diese Menschen sind in meinen Augen der Kern, um den eine europäische Identität und Kultur wachsen wird, denn für uns alle stellt die europäische Dimension eine alltägliche Realität dar. Wir haben oft zwei Pässe (auch ich!), sprechen mehr als eine Sprache und sind gewohnt mit kulturellen Unterschieden umzugehen, die den Reichtum Europas ausmachen. Aber langsam werden wir auch ungeduldig und verstehen nicht, warum wir mit Europa nicht weiterkommen!“

Und dann? „Irgendwann“, sagt Joly, „sind wir 20 oder 50 Millionen, dann werden Sie eine europäische Revolution erleben!“.

Dialog mit Wissenschaft und Wirtschaft

Jean-Baptiste Joly spricht mit Bedacht, genießt die Zwischentöne, freut sich spürbar, wenn er mit Sprache Räume öffnet. Warum sollte dies nicht auch im Dialog mit Wissenschaft und Wirtschaft gelingen? Jolys Antwort ist das 2002 gestartete Stipendienprogramm „art, science and business“ (Kunst, Wissenschaft und Wirtschaft). „Die Interaktion von Menschen mit unterschiedlichen Horizonten sowie der Transfer von Wissen und Erfahrung zwischen den Disziplinen“, heißt es offiziell, „sind die Basis für Synergien aus Kreativität, Erfindungsgeist und Management“.

Ist das nicht nur Wunschdenken? „Kunst und Wirtschaft“, sagt Joly unbeirrt, „können viel voneinander lernen. Sie ergänzen sich auf ideale Weise: Aus der Kunst kommen Fragen, mit denen sich noch niemand befasst hat, die Wirtschaft ist ständig auf der Suche nach neuen Lösungen“.

Impulse für Bosch-Forschungscampus in Renningen

Ein Beispiel? Die „Kooperation zwischen der Akademie Schloss Solitude, dem Künstlerduo Wimmelforschung und der Robert-Bosch GmbH auf der Plattform 12 im Forschungscampus in Renningen“. „Die künstlerischen Positionen der Solitude-Stipendiaten“, so der Solitude-Lenker, „verhelfen den Bosch-Mitarbeitern dazu, Ideen anders zu reflektieren und neu zu verknüpfen“.

Und was hat die Kunst davon? „Die Künstler“, ist sich Joly sicher, „bewegen sich außerhalb ihres normalen Arbeitskontexts und sind angehalten, sich in einem fremden Umfeld zu orientieren. Die Kunst erhält eine Wirksamkeit außerhalb des Kunstkontexts und gewinnt neue Handlungsspielräume“.

Schulterschluss mit dem Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe

Auch, um neue Fragen zu stellen – aktuell etwa zur noch reichlich ungeordneten Vielfalt des Begriffes Digitalisierung. Intensiv suchte Joly zuletzt hierfür den Schulterschluss mit dem Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe und dessen Präsident Peter Weibel. Der Österreicher, selbst Innovationstreiber, summiert Jolys Rang gern: „Durch die Vielfalt seiner Talente – exzellenter Botschafter der Kunst, homo academicus von Rang, diplomatischer Pragmatiker, brillanter Schmied von Allianzen zwischen Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur und Entwerfer eines globalen Netzwerkes von Stipendiaten“, sagt Weibel, „hat Jean-Baptiste Joly die Akademie Schloss Solitude zu einem singulären Ort nicht nur in Baden-Württemberg, sondern in der ganzen Welt und damit Baden-Württemberg in der ganzen Welt bekannt gemacht“.

Abschied nach 29 Jahren

Nach 29 Jahren verlässt Jean-Baptiste Joly, Weltbürger und Überzeugungs-Stuttgarter, am Ende diesen Monats die Akademie Schloss Solitude. „Das Land Baden-Württemberg“, sagt Petra Olschowski, Staatssekretärin im Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst, ist Jean-Baptiste Joly zu großem Dank verpflichtet.“

Elke aus dem Moore übernimmt

Die Nachfolge ist geregelt – Elke aus dem Moore, frühere künstlerische Leiterin des Künstlerhauses Stuttgart, wird kommen. Zuletzt verantwortete sie im Institut für Auslandsbeziehungen das internationale Ausstellungsprogramm.

Jolys Wunsch für Solitude? „Lebendige Streitkultur und eine Prise Unberechenbarkeit“

Was wünscht sich Joly für die Akademie Schloss Solitude? Die Antwort ist typisch: „Solitude“, sagt er, „ist ein 250 Jahre altes Barockschloss, dem ich noch ein langes Leben wünsche, beim Publikum sehr beliebt und im Bewusstsein der Öffentlichkeit dieser Region gut verankert. Was ich der Akademie wünsche: weiter eine glückliche Hand bei der Suche nach herausragenden internationalen Künstlerinnen und Künstlern, Kooperationspartner in der Stuttgarter Region auf Augenhöhe, eine lebendige Streitkultur und eine Prise Unberechenbarkeit“.

Markus Merz: „Er wird uns fehlen“

Jean-Baptiste Joly verlässt auch Stuttgart, zieht nach Berlin. Stellvertretend für viele stimmt Markus Merz die Abschiedsmelodie an. „Über unser gemeinsames Bemühen um eine avancierte Kunst-, Kultur- und Ausbildungspolitik“, sagt der Geschäftsführer des Merz-Bildungswerks, „entstand meine Freundschaft zu diesem geradlinigen Denker, Akteur und Mitstreiter. Ich bin sehr dankbar für sein nachhaltiges Wirken in Stadt und Land – er wird uns fehlen“.

Akademie Schloss Solitude in Kürze

1989 als Stiftung Öffentlichen Rechts gegründet, bietet die Akademie Schloss Solitude Künstlerinnen und Künstlern aus aller Welt mit Arbeitsaufenthalten die Möglichkeit zum spartenübergreifenden Dialog.

1500 Stipendien wurden seit der Eröffnung der Akademie Schloss Solitude 1990 vergeben. Die Akademie Schloss Solitude wird von Zuwendungen des Landes Baden-Württemberg getragen (Toto-Lotto-Mittel). Alle 24 Monate werden 50 bis 70 Stipendiaten ausgesucht. Für sie stehen 45 Studios zur Verfügung.

29 Jahre lenkte Jean-Baptiste Joly die Akademie. An diesem Donnerstag und Freitag ist er noch einmal Gastgeber eines internationalen Kunst-, Wissenschafts- und Wirtschaftstreffens. Diskutiert wird über die Vermittlung von Geschichte.