Der Papp-Planet ist eine von vielen optischen Irritationen im 12. Stock. Foto: Moritz Mayerle

Im 12. Stock werden im Bosch-Standort Renningen zukunftsweisende Ideen gesucht. Ein Besuch im schöpferischen Chaos.

Stuttgart - Der Blick aus dem 12. Stock sieht nicht nach technologischer Zukunft aus. Grüne Hügel, Siedlungen, unten gibt es einen Teich, Bänke und ein Fußballfeld. Aber was kommt da ins Blickfeld? Buchstaben. Hier haben Leute auf das Fenster geschrieben. „Wie leben wir 2030?“, steht da. Wer weiterlesen will, hat schnell Birgit Thoben im Nacken. „Das hier sind unsere Ideen, das ist unser geschütztes Refugium. Bitte nicht aufschreiben.“ Thoben ist Innovationsmanagerin beim Technologiekonzern Bosch, sie verantwortet die Etage namens „Plattform 12“ am neuen Forschungsstandort in Renningen. Die Plattform 12 ist für die Öffentlichkeit eigentlich nicht zugänglich. Diese Recherche ist eine Ausnahme – und sie darf nur stattfinden gegen das Versprechen, keine Ideen zu verraten.

Wie bekommt man Einfälle, die die Welt verändern? Hoffnung setzen die Verantwortlichen bei Bosch in eine für deutsche Unternehmen einmalige Etage: 950 Quadratmeter leistet sich das Unternehmen im 310 Millionen Euro teuren neuen Standort, um die Kreativität aus seinen 1400 forschenden Mitarbeitern herauszukitzeln. Schon die Möblierung ist ungewöhnlich: Im 12. Stock in Renningen hängt ein Planet aus Pappmaché, aus dem ein Infusionsbeutel herausbaumelt. In einer Ecke schwingen Kugeln auf Ständern mit Aufschriften wie „Bitte merken, dass ich es vergessen kann“. Dazwischen chaotische Werkzeugkisten ohne Beschriftung und Schubladenschränke, in denen die Schubladen vertikal statt horizontal gesteckt sind. Das ist alles gar nicht so, wie man sich ein traditionelles schwäbisches Familienunternehmen vorstellt.

„Die Werkzeugkisten haben bewusst keine Beschriftung, damit man auch mal findet, was man nicht gesucht hat“, sagt Thoben. Hier hängen viele Uhren, jede geht anders – und keine richtig. Die Künstler, die hier jeweils drei Monate mit einem Stipendium der Akademie Schloss Solitude verbringen, schreiben Worte extra falsch, um zu zeigen, dass Fehler nicht schlimm sind. Kommt der klassische Ingenieur damit klar? Die Umgebung soll provozieren und verstören, sagt Thoben, sie soll die gewohnten Bahnen durchkreuzen. „Hier soll man bewusst ‚out of the box‘ denken können“, so Thoben.

Design-Thinking soll die Ingenieure beflügeln

Aber vielleicht ist das genau der Widerspruch. Bewusstes Ingenieurdenken führt meist zu erwartbaren Innovationen. Doch welche Produkte will der Mensch der Zukunft haben? Alle stellen sich diese Frage. Und alle kennen die Geschichten von amerikanischen Start-ups, die sogenannte disruptive Technologien erfunden haben und damit die ganze Unternehmenswelt unter Druck setzen. Wie kommt man auf solche Ideen, fragen sich auch deutsche Manager. Mit den Innovationen ist ein Denken aus den USA gekommen, das eher typisch für Start-ups ist: Design-Thinking. Das soll helfen, nicht zuerst an die eigenen Produkte zu denken, nicht erst an die Lösung, sondern an Bedürfnisse. Es bedeutet auch, Ideen nicht gleich zu bewerten, sondern sie in Bilder oder Dinge zum Anfassen zu formen. Die Frage dahinter: Wie können wir alle Hemmungen ablegen? Wie können wir so frisch denken wie ein amerikanisches Start-up, so als hätten wir nichts zu verlieren? Oder in den Worten der Innovationsmanagerin Thoben: „Wir müssen scheitern lernen. Wir brauchen 100 Ideen, damit sich eine durchsetzt.“ Was hierzulande fehlt, ist die Fehlerkultur: Während Gründer im Silicon Valley von ihrem Scheitern erzählen, hört man in Deutschland nur Erfolgsgeschichten. Alles andere ist tabu.

Wie viele Ideen in der Plattform entstanden sind, verrät Birgit Thoben niemandem. „Ich will keinen Druck aufbauen, dass man nur hierherkommen darf, wenn man auch Ideen hat.“ Auch das Management habe sich damit abgefunden, von ihr vorerst keine Zahlen zu bekommen. „Das setzt Vertrauen in die Mitarbeiter voraus“, sagt Thoben, „wer kreativ sein will, braucht Freiräume.“ Die Mitarbeiter der Forschungsabteilung dürfen die Plattform jederzeit nutzen, ohne sich zu rechtfertigen – zumindest in der Theorie. Wie sehr sie das manchmal verteidigen muss, lassen Thobens Äußerungen allerdings auch erahnen. „Man darf nicht vergessen, wo wir herkommen: 130 Jahre Tradition, Massenproduktion und keine Fehler – das steckt in der DNA.“

Bordkarten für die Präsentation

Vielleicht helfen junge, externe Mitarbeiter, die Gene des schwäbischen Familienunternehmens aufzumischen. Die Doktorandin Larissa Kutscha kommt gut damit klar, Ideen auszuspucken: „Wir müssen lernen, einfach mal was Unfertiges in den Raum zu stellen.“ Kutscha hat beim Aufbau ihres Experiments aus der Kunststofftechnik zwischenzeitlich die gesamte Plattform in Beschlag genommen. Immer wenn Kollegen über die Kabel stiegen, kam ein Austausch zustande. „Man fragt sich: Was soll das?“, sagt sie. Man ärgert sich vielleicht sogar. Auch jetzt noch kämen Mitarbeiter, die sagten: „Was soll dieser Schnickschnack? Das ist doch Geldverschwendung.“ „Doch dann passiert etwas im Kopf“, sagt Kutscha. „Man fängt an herumzuspielen, etwas neu zu ordnen – und plötzlich hat man eine Idee.“

Thomas Drescher erinnert sich noch gut daran, wie Birgit Thoben damals auf ihrer Suche nach den 100 Ideen bei ihm gelandet ist – und wie seltsam er das fand. „Wieso genau 100?“ Er macht keinen Hehl daraus, dass Bosch für ihn eine ganz schön schräge Welt ist, auch wenn der Konzern ihn und sein Unternehmen „Wimmelforschung“ beauftragt hat, die Plattform 12 zu entwickeln. „Die hatten sich das mit den 100 Ideen irgendwie ausgerechnet“, sagt er schulterzuckend. Gerechnet! Das ist aus seiner Sicht schon der erste Fehler: Kreativität aus einer rein ökonomischen Perspektive zu betrachten.

Die Innovationsabteilung hatte ihn und seine Partnerin Maren Geers eingeladen, um über ein Konzept für einen Kreativraum zu diskutieren. „Aber deren Ideen waren viel zu steril, viel zu zonal: hier reden, da Kaffee trinken, da ausprobieren. So Bosch-like halt.“ Vergesst es, sagte er schließlich, das Denken schien zu weit voneinander entfernt. Boschs Reaktion kam für Drescher überraschend: „Mach es besser.“ Man könnte meinen, Drescher hätte provozieren wollen, als er einige Wochen später sein Konzept der Führungsriege präsentierte: die falsch gehenden Uhren, der Planet mit der Infusionsflasche. Zur Präsentation verteilten Stewardessen Bordkarten an die Manager, um klarzumachen: „Sie betreten hier eine andere Welt.“ Drescher bekam den Auftrag. „Wir haben deren Konformität mit unserer Poesie unterwandert und denen ein schwarzes Loch verkauft.“

Der Boschforscher, das seltsame Wesen

Die zugehörige Außerirdische sitzt an diesem Tag in einer Ecke und beobachtet die Boschler. Kinga Tóth trägt ihre Haare hochgesteckt, einzelne Zöpfe ragen wie Antennen in die Luft. „Ich bin natürlich total komisch für die anderen hier“, sagt sie. Die ungarische Künstlerin stellt scheinbar unverrückbare Überzeugungen infrage. „Ich arbeite gegen Grenzen an“, sagt Tóth, „die vertragen sich nicht mit Kreativität.“ Sie hat eine Art ethnologische Studie über das seltsame Wesen des Bosch-Forschers betrieben und daraus ein Klangkunstwerk geschaffen. „Mögt ihr Kunstlicht?“, hat sie sie gefragt, „und Kunsttemperatur? Könnt ihr raus, wenn ihr wollt?“ All das, was für Unternehmen charakteristisch ist, behindert aus ihrer Sicht die Kreativität. „Diese Menschen hier arbeiten für die Zukunft, für die Utopie, für ein besseres Leben. Da müssen solche Fragen gestellt werden“, findet sie. Sie sieht sich als Indikator: Künstler spürten, was die Kreativität hindere.

Unbemerkt von allen Beteiligten schleicht sich nachmittags Design-Thinking in die Plattform ein. Ein Praktikant schiebt einen USB-Stick in den 3-D-Drucker. Was er hier macht? „Nichts Besonderes“, sagt er , „ich drucke nur schnell eine Idee aus.“ Eine Halterung für Sensoren eines technischen Geräts. Ein Detail, das in seiner Abteilung bisher ungelöst blieb.

„Rapid-Prototyping“ heißt das Zauberwort für dieses „nur schnell“. Die Idee dahinter ist nicht neu: Hirnforscher sagen schon lange, dass wir Dinge am besten begreifen, wenn wir sie anfassen können. Ein schneller Prototyp aus Papier, Pappe oder Knete zeigt die Stärken einer Idee – und ihre Schwächen. „Das eröffnet ganz neue Möglichkeiten, wenn man wirklich etwas begreifen will“, sagt die Doktorandin Kutscha. Sie sitzt jetzt neben Matthias Kuntz, seit zehn Jahren Forschungsingenieur bei Bosch, auf den Stufen eines rollbaren kleinen Amphitheaters in der „Plattform 12“. Beide eint das Interesse an Kreativitätstechniken. Kuntz hat schon öfter beobachtet, wie Manager kreativ werden, sobald die Umgebung stimmt. Einmal sei eine hohe Führungskraft zum Workshop in ein Künstleratelier gekommen. Die Staffeleien, die Unordnung, das kreative Chaos: Sofort habe er das Jackett abgelegt und die Ärmel hochgekrempelt. „Sobald der Ingenieur statt per Powerpoint mit der Hand schaffen darf, bewirkt das Wunder.“

Wie leben wir in Zukunft? Die Schrift am Fenster ist an einigen Stellen durchgestrichen. Hier ziert ein Smiley die Scheibe, an einer anderen Stelle steht „Bitte verstecken und mir in zwei Wochen wiedergeben“. In einer Ecke sitzt eine Arbeitsgruppe und versucht, Kriterien in Zahlen zu packen. Ist der Kunde der Zukunft bereit, für mehr Nachhaltigkeit auch mehr zu bezahlen? „Unsere Ideen passen doch nicht in eine Tabelle“, klagt eine Mitarbeiterin. „Was jetzt“, ruft ihr Kollege ungeduldig, „soll ich jetzt eine Eins oder eine Drei eintragen für Nachhaltigkeit?“ So ganz kann man seine DNA eben doch nicht ablegen.