Schülerinnen aus Tuam besuchen den Ort, wo zwischen 1925 und 1961 hunderte Kinderleichen verscharrt wurden. Foto: AFP

Es ist ein besonders finsteres Kapitel der irischen Geschichte. In einem Heim für ledige Mütter starben fast800 Kinder. Auf der Suche nach deren Gräbern machte eine Historikerin eine unfassbar grausame Entdeckung.

Tuam/Stuttgart - Die westirische Kleinstadt Tuam im County Galwaygilt als beschaulicher und friedlicher Ort. Die 3000-Seelen-Gemeinde wirbt damit, ein besonders angenehmer Ort zum Leben zu sein. Es gibt in Tuam einen viel zitierten Spruch: „Wenn eine Person aus Tuam stirbt und zum Himmelstor kommt, dann wird der Engel sagen: ‚Dir wird es hier nicht gefallen, es ist nicht Tuam‘.“

Die Hölle von Tuam

Für hunderte alleinstehende Mütter und ihre Kinder war Tuam die Hölle auf Erden. Von 1925 bis 1961 wurden sie in einem katholischen Heim für „gefallene Mädchen“ von den dort lebenden Nonnen gedemütigt und als Arbeitskräfte ausgebeutet. Ihre verstorbenen Kinder wurden statt auf dem kirchlichen Friedhof wie Abfall in Klärgruben, Abwasserkanälen und unterirdischen Kammern entsorgt.

Die irische Polizei hat jetzt in einem Untersuchungsbericht offiziell den Fund von „großen Mengen“ Knochen von Föten und Skeletten von Kindern im Alter bis zu drei Jahren in Tuam bestätigt. Es handelt sich um die sterblichen Überreste von fast 800 Kleinkindern, die Experten in den vergangenen Jahren in 17 unterirdischen Kammern entdeckt haben.

Damit ist in den Augen vieler Opfer des St. Mary’s Mother and Baby Home belegt, dass in Tuam und anderen Einrichtungen für schwangere Unverheiratete, die die katholische Kirche in Irland betrieb, „Massenmord“ begangen wurde. Der Erzbischof von Tuam, Michael Neary, erklärte, er sei entsetzt über das, was in seiner Erzdiözese über Jahrzehnte geschehen sei.

1975 wurden die ersten Knochen gefunden

Schon seit über 40 Jahren kursieren Gerüchte, dass im St. Mary’s Mother and Baby Home nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sei. 1975 stießen zwei Kinder beim Spielen auf dem Gelände des früheren Heims auf menschliche Knochen. Ende der 1980er-Jahre fanden Arbeiter in einem ausgedienten Abwassertank des Heims ein erstes Massengrab.

Die Funde wurden von den Behörden jedoch nicht weiter verfolgt. Dies vor allem deshalb, weil der Orden der Schwestern von Bon Secours, der das Heim wie einige andere in Irland unterhielt, jede Mithilfe an der Aufklärung verweigerte. Die Begründung: Alle damaligen Schwestern seien bereits verstorben.

Die Überlebenden und Toten des St. Mary’s Mother and Baby Home

4000 Kinder und Babys in „Schuhkartons und Lumpen beerdigt“

Paul Redmond und Séan Crowe von der „Coalition of Mother and Baby Home Survivors“ („Koalition der Überlebenden der Mutter-Kind-Heime“), erklärten, der aktuelle Fund sei „nur die Spitze des Eisbergs“. Mindestens 6000 Babys und Kinder seien in neun Heimen des Ordens über Jahrzehnte umgekommen.

„Das Schlimmste kommt erst noch, weil die Details der riesigen Heime von St. Patrick’s, Bessborough und der Abtei in Sean Ross noch offengelegt werden müssen.“ Laut Redmond und Crowe wurden allein in diesen drei Heimen mehr als 4000 Kinder und Babys in „Schuhkartons und Lumpen beerdigt“.

Die unbarmherzigen Schwestern des Ordens Sisters of Bon Secours

Das St. Mary’s Mother and Baby Home wurde von 1925 bis 1961 von katholischen Ordensschwestern betrieben. Sie gehörten dem 1824 gegründeten Pflegeorden Congregation of the Sisters of Bon Secours an. Die Leichen stammen den jetzt veröffentlichten Untersuchungen zufolge höchstwahrscheinlich aus dieser Zeit.

Auf ihrer Homepage schreibt die Ordensgemeinschaft, die noch heute Krankenhäuser und Pflegeheime in Irland unterhält: „Unser Mission sagt: Wir, Frauen der Heilung, verpflichten uns, alle Schöpfung zu verteidigen und zu pflegen. Mit anderen kämpfen gegen wir gegen die schreiende Ungerechtigkeit und gegen alles, was das Leben auf der Erde vermindert.“

Kinderleichen „wie Müll“ weggeworfen

Für die „schreiende Ungerechtigkeit“ waren indes zahlreiche Nonnen des Ordens selbst verantwortlich. Kinder, die in der Einrichtung starben, wurden einem ehemaligen Heimbewohner zufolge „wie Müll“ weggeworfen. „Es gab Hunderte Kinder in dem Heim. In meinen Augen war das wie eine Kaninchenkolonie“, sagte der Mann der irischen Tagezeitung „Irish Mirror“. Die Kinder litten, wie er selbst auch, unter vielen Krankheiten.

Der Mann wurde 1947 in St. Mary’s Mother and Baby Home geboren, von seiner Mutter getrennt und zur Adoption freigegeben. Ein anderer ehemaliger Bewohner des Heims berichtete der Zeitung „Irish Times“, seine Mutter habe ein Jahr lang wie eine „Sklavin“ für die Nonnen arbeiten müssen. Mutter und Sohn fanden sich erst 2010 wieder.

Erst jetzt kommt die ganze Wahrheit ans Licht

Tuberkulose, Krämpfe, Masern, Keuchhusten und Grippe

Den spektakulären Fall ins Rollen brachte die Historikerin Catherine Corless (62) aus Tuam. 2012 veröffentlichte sie einen Artikel in einer Lokalzeitung, der enthüllte, dass 796 Kinder, die meisten von ihnen Babys und Kleinkinder, während der 36 Betriebsjahre im Heim gestorben waren.

Catherine Corless studierte ihre Todesurkunden und stellte fest, dass sie eine Reihe von Krankheiten wie Tuberkulose, Krämpfe, Masern, Keuchhusten und Grippe aufführten. Aber nur für ein Kind konnte sie nachweisen, dass es auf dem Friedhof beerdigt worden war.

Überreste von 800 Föten, Babys und Kleinkindern

Doch wo waren die anderen? Als Catherien Corless der Sache auf dem Grundstück des ehemaligen Heims nachgehen wollte, wurde sie Nachbarn gefragt: „Warum machst du das? Wenn da Leichen sind, dann lasse sie dort doch liegen.“ Viele hätten Bescheid gewusst, aber alles verheimlicht, sagte Catherine Corless dem „Irish Mirror“. Schließlich fand man in ehemaligen Klärgruben, die auch als Abwasserkanal genutzt wurden, die sterblichen Überreste von fast 800 Kindern.

Es soll zuvor schon viele Hinweise auf das Massengrab gegeben haben. Anwohner haben Berichten zufolge geglaubt, dass es sich bei ersten Knochenfunden um Opfer der irischen Hungersnot im 19. Jahrhundert handeln müsse. Nach der Veröffentlichung der Ergebnisse von den Grabungen steht aber zweifelsfrei fest: Die Knochen sind nur wenige Jahrzehnte alt. „Das sind sehr traurige und beunruhigende Nachrichten“, teilte die für Kinder zuständige Ministerin Katherine Zappone mit.

Tuam ist kein Einzelfall

Die Republik Irland arbeitet seit drei Jahren mit Hilfe einer Kommission landesweit die Geschichte von kirchlichen Heimen für ledige Mütter und deren Kinder auf. Auch Filme wie „The Magdalene Sisters“ aus dem Jahr 2002, der sich kritisch mit den Magdalenen-Heime in Irland auseinandersetzt, widmen sich diesem düsteren Kapitel der irischen Geschichte.

Die Geschichte der Magdalen-Heime

Besserungsanstalten für „gefallene Mädchen“

Magdalenen-Heime und -Häuser waren Anstalten für „gefallene Mädchen“, ursprünglich gedacht als Besserungsanstalten für Prostituierte. Aber auch viele ledige Mütter wurden hier mit ihren Kindern festgehalten. Im 19. Jahrhundert entstanden vieler solcher kirchlichen Einrichtungen – als „Magdalen Laundries“ (Magdalenen-Wäschereien) bezeichnet – im erzkatholischen Irland.

Die ehemaligen Prostituierten und ledigen Mütter mussten dort in den Wäschereibetrieben unter sklavenähnlichen Bedingungen schuften. Bis Ende des 20. Jahrhunderts existierten auch in Deutschland solche Heime „für gefallene Mädchen“ als geschlossene Einrichtungen der Gefährdeten-Fürsorge. Meistens wurden sie von kirchlichen Träger betrieben.

Tuam – nur die Spitze des Eisberges

Experten sprechen mit Blick auf die aktuellen Funde in Tuam von der Spitze des Eisberges. Zehntausende „gefallener Frauen“ sollen allein in Irland in solchen Einrichtungen untergebracht worden sein. Die Sterblichkeit der Kinder in den Unterkünften war oft weit höher als im Landesdurchschnitt. Auch im benachbarten Nordirland herrschten schreckliche Zustände in ähnlichen Einrichtungen.

Die Kommission legte 2013 einen ersten Untersuchungszwischenbericht „Justice for Magdalenes“ vor, in dem eine „maßgebliche Verwicklung des Staates“ in das menschenrechtswidrige System der „Magdalenen-Wäschereien“ konstatiert wird. Mehr als 10 000 Frauen ohne Schuld, oftmals ohne überhaupt zu wissen, weshalb sie in dem Heimen waren, seien zwischen 1922 und 1996 eingekerkert worden, heißt es dort.

Sexuelle, körperliche und emotionale Misshandlung

„Es gibt Beweise für sexuelle, körperliche und emotionale Misshandlung“, sagte der Präsident der Untersuchungskommission kürzlich bei der Vorstellung eines Zwischenreports. Die Experten hatten Fälle aus den Jahren 1922 bis 1996 in irischen Einrichtungen der Kirche, des Staates und von Wohlfahrtsverbänden untersucht. Demnach haben die Einrichtungen teilweise lange versucht, ihren Ruf zu schützen – und die Täter. Dazu zählten Priester und Nonnen, die ihre Schützlinge emotional, körperlich und seelisch missbrauchten.

Wie geht es in Tuam weiter? Die Untersuchungen werden fortgesetzt, auch um die genauen Todesursachen zu klären. Befürchtet wird, dass unter einem neuen Kinderspielplatz auf dem Grundstück des ehemaligen Heims noch weitere Kinderleichen liegen könnten.

Missbrauch und sexuelle Gewalt

Gab es solche Exzesse auch in Deutschland?

Als im Sommer 2014 das ganze Ausmaß des Falls Tuam ans Licht kam, zog der damalige Mainzer Kardinal Karl Lehmann Parallelen zwischen dem irischen Massengräbern und der Praxis in deutschen Krankenhäusern. Er kenne „den abschätzigen Umgang mit ungeborenem Leben nach dem Tod“ aus Gesprächen mit Krankenschwestern, die entgegen aller gesetzlichen Bestimmungen zur Assistenz bei Abtreibungen bereit sein müssten, schrieb der inzwischen emeritierte Bischof in einem Beitrag für das Magazin „Cicero“ im Juli 2014. „Wer redet bei uns über solche Unmenschlichkeiten? Ich denke etwa an die Behälter mit abgetriebenen Föten für die kosmetische Industrie.“

„Auch in unseren Heimen stand nicht immer alles zum Besten“

Die Ordensschwestern seien überfordert gewesen, erklärte Lehmann. „Aber vermutlich machte sie eine erschreckende Einstellung zur Sexualität und Zeugung so gefühllos.“ Der Kardinal schreibt weiter, es dürfe nicht darüber geschwiegen werden, dass auch in Deutschland durch die ganze Neuzeit hindurch schwangere unverheiratete Frauen zum Verheimlichen ihrer Schwangerschaft und oft zur Abtreibung gezwungen worden seien. „Auch in unseren Heimen stand nicht immer alles zum Besten.“

Kurienkardinal Müller: „Die Kirche verdeckt auf jeden Fall nichts“

Der Präfekt der vatikanischen Glaubenskongregation, der deutsche Kurienkardinal Gerhard Ludwig Müller, widersprach erst vor wenigen Tagen vehement Vorwürfen, die katholische Kirche habe Missbrauchsfälle in den eigenen Reihen systematisch vertuscht. „Die Kirche verdeckt auf jeden Fall nichts“.

Gegenüber der italienischen Tageszeitung „La Repubblica“ sagte Müller, dass dies in einigen Fällen „aus Ahnungslosigkeit“ geschehen sein könne, „aber nicht systematisch“. Müller: „Die Kirche arbeitet, im Gegensatz zu vielen anderen Institutionen, wirklich für Null-Toleranz“.

Rücktritt von Marie Collins

Müllers Äußerungen waren eine Reaktion auf den Rücktritt von Marie Collins als Mitglied der Päpstlichen Kommission für Kinderschutz am vergangenen Mittwoch (1. März). Papst Franziskus hatte die Kommission im März 2014 eingerichtet. Marie Collins ist die Gründerin der irischen Kinderschutz-Organisation „Marie Collins Foundation“.

Als Jugendliche wurde sie selbst Opfer von Missbrauch durch einen Kleriker. Gegenüber dem amerikanischen Kardinal und Erzbischof von Boston Sean O’Malley, der die vatikanische Kommission leitet, und in einem Brief an den Papst nannte die Irin als Grund für ihren Rücktritt die mangelnde Zusammenarbeit von Büros der römischen Kurie mit der Kinderschutz-Kommission.

Marie Collins: „Wenn es im Vatikan in bestimmten Positionen noch Männer gibt, die nicht mit der Kommission zusammenarbeiten wollen, obwohl die nichts anderes zu tun versucht, als Kinder und andere Schutzbedürftige vor Schmerz und Missbrauch zu bewahren, dann kann ich als Opfer wirklich nichts anderes tun als zu gehen.“