Justizminister Rainer Stickelberger Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Die Globalisierung macht es schwer, die Einhaltung deutscher Gesetze durchzusetzen – wenn es etwa um die Persönlichkeitsrechte geht. Justizminister Rainer Stickelberger plädiert deshalb für pragmatische Lösungen.

Herr Stickelberger, wer im Internet nach seinem Namen googelt, kann böse Überraschungen erleben. Dort finden sich zuweilen bösartige, falsche oder völlig veraltete Informationen. Braucht der Bürger ein Recht auf Löschung seiner Daten?
Ja, das braucht er.
Und warum hat er es nicht?
Die Rechtslage ist kompliziert. Der Europäische Gerichtshof hat bereits entschieden, dass der Bürger ein „Recht auf Vergessenwerden“ gegenüber Suchmaschinenbetreibern hat. Gegenwärtig ist es für den Bürger in der Praxis häufig jedoch nicht einfach, dieses Recht durchzusetzen. Ich setze mich für eine einfache Buttonlösung ein: Mit nur einem Klick sollte der Bürger zu dem Formular gelangen, wo er die Löschung beantragen kann. Der Löschungsanspruch müsste sich zudem unmittelbar gegen denjenigen richten können, von dem die Behauptungen stammen. Doch die Urheber sind oft gar nicht bekannt. Deshalb können nur die Plattform-Anbieter wie Google und Facebook helfen, die aber kein allzu großes Interesse daran haben, die Identität ihrer Kunden preiszugeben oder allzu viel zu löschen.
Was können deutsche Justizbehörden gegenüber diesen US-Unternehmen erreichen?
Bürger können zwar über Google erreichen, dass Inhalte in Deutschland aus den Suchergebnissen gelöscht werden, aber sie haben schon nach deutschem Recht keinen Anspruch auf eine Auskunft über den Urheber. Wenn sie Inhalte zum Beispiel beleidigend oder verleumdend finden, können sie nur versuchen, diesen über die Staatsanwaltschaft durchzusetzen. Die Staatsanwaltschaften erhalten meist die angeforderten Auskünfte.
Ein Gnadenakt von Google & Co.
Die Behörden haben ein Recht auf Auskunft, aber dessen Durchsetzung wäre bei einem US-Unternehmen kompliziert. Sie müssten in jedem einzelnen Fall versuchen, über Rechtshilfeersuchen etwa an die USA weiterzukommen. Der Ausgang ist aber offen, denn es geht dann auch um die Frage, wie der jeweilige Fall in den USA beurteilt würde.
Was müsste geändert werden?
Das Mindeste ist, dass der einzelne Bürger gegenüber den Plattformbetreibern einen Auskunftsanspruch über die Identität des Urhebers des Eintrags erhält, so dass er unmittelbar gegen diesen vorgehen kann. Dafür setze ich mich ein. Allerdings zeigt der Umgang mit den globalen Plattformbetreibern, dass die Durchsetzung unseres Rechts hier an Grenzen stößt und wir uns manchmal mit Verhandlungslösungen zufriedengeben müssen. So hat Bundesjustizminister Heiko Maas gegenüber Facebook immerhin erreicht, dass Hasskommentare gegen Flüchtlinge schneller gelöscht werden.
Die Frage nach der Durchsetzungsfähigkeit unserer Rechtsordnung stellt sich nicht nur in der virtuellen Welt. Besonders drängend stellt sie sich nach den massenhaften Übergriffen gegen Frauen in deutschen Großstädten. Welche Antwort muss der Rechtsstaat darauf geben?
Auf jeden Fall keine reflexhafte. Die meisten Taten können mit dem heutigen Strafrecht geahndet werden. Dazu braucht man allerdings die Täter.
Viele Frauen wurden massiv bedrängt und begrapscht – im heutigen Sexualstrafrecht sind das doch Kavaliersdelikte.
Es gibt hier eine Lücke, die gerade geschlossen wird. Dann wird es auch strafbar sein, eine Frau ohne Gewalteinwirkung zu begrapschen, indem etwa das Überraschungsmoment ausgenutzt wird. Aber auch diese Reform bringt nur etwas, wenn wir an die Täter herankommen. Deshalb brauchen wir mehr Videoüberwachung.
Bisher hat der Datenschutz in Deutschland eine überragende Bedeutung. Brauchen wir statt des Schutzes vor dem Staat jetzt den Schutz durch den Staat?
Weil das Sicherheitsbedürfnis in der Bevölkerung steigt, müssen wir die Grenzen zwischen den Persönlichkeitsrechten und dem Sicherheitsbedürfnis neu ausloten. Die Übergriffe und die wachsenden Terrorgefahren kann der Staat nicht ignorieren.
Kommen durch die geplanten Sicherheitsmaßnahmen die Grundrechte unter die Räder?
Nein, denn die Grundrechte standen schon immer in einem Spannungsverhältnis zueinander. Man muss sie immer wieder neu ausbalancieren. Derzeit zeigt sich, dass für die Sicherheit zusätzliche Maßnahmen erforderlich sind, die auch die Persönlichkeitsrechte tangieren. Aber kein Grundrecht wird dadurch in seinem Kern beeinträchtigt.
Schöpft der Staat seine Möglichkeiten aus, das Recht und die Sicherheit durch die Abschiebung straffälliger Zuwanderer zu stärken?
Es ist ein Irrglaube, durch Abschiebung ließe sich die Zahl der Flüchtlinge spürbar verringern. Selbst wenn beispielsweise alle Täter aus der Silvesternacht ermittelt und abgeschoben würden, wären dies vielleicht einige Hundert – kein Vergleich zu mehr als einer Million Flüchtlingen, die allein im vergangenen Jahr zugewandert sind.
Aber für die Sicherheit wäre es schon von Vorteil, wenn Abschiebungen nicht nur angedroht, sondern auch umgesetzt würden.
Auch hier setzt der Rechtsstaat Grenzen – selbst Straftäter haben Rechte. Allerdings wurden die Voraussetzungen für eine Ausweisung jetzt ja erneut gesenkt.
Dann müsste es ja bald auch zu mehr Abschiebungen kommen.
Zu mehr Ausweisungen vielleicht schon – aber vor einer Abschiebung, mit der die Ausweisung durchgesetzt wird, muss sich auf der anderen Seite erst einmal ein Staat finden, der den straffälligen Zuwanderer aufnimmt. Und es gilt die Genfer Konvention, wonach man niemanden in Länder abschieben darf, in denen Tod oder Folter drohen. Damit sind zum Beispiel Abschiebungen nach Syrien problematisch.
Eine gute Nachricht für die Minderheit der Syrer, die unsere Regeln missachten will: Was immer sie hier anrichtet – sie steht unter dem Schutz der Genfer Konvention.
Das muss man so sehen.
Ein Freibrief, der dem Bürger kaum zu vermitteln ist.
Selbst wer schwere Straftaten begangen hat, verliert in unserem Staat nicht seine Rechte. Aber die Konvention schützt selbstverständlich nicht vor konsequenter Strafverfolgung in Deutschland. Und wenn sich die Verhältnisse im Heimatland normalisiert haben, ist natürlich auch eine Abschiebung möglich.
Die Übergriffe in der Silvesternacht wurden von Migranten verübt. Begehen diese mehr Sexualstraftaten als die Deutschen?
Die meisten Delikte sind Eigentumsdelikte, insbesondere Diebstahl. Doch auch die Sexualstraftaten nehmen mit der Zahl der Flüchtlinge zu. Hier sind vor allem Marokkaner und Algerier auffällig. Allerdings muss man berücksichtigen, dass die meisten Flüchtlinge Männer zwischen 18 und 30 Jahren sind. Diese Gruppe ist auch unter den Deutschen für die meisten Sexualstraftaten verantwortlich. Der Durchschnitt der deutschen Bevölkerung vom Säugling bis zum Greis ist daher kein passender Maßstab.
Nicht nur das Sicherheitsgefühl vieler Menschen leidet, sondern auch das Gerechtigkeitsgefühl. Der Idee nach behandelt der Rechtsstaat alle gleich, egal, worum es geht. Aber sind Wohlhabende, die sich die teuersten Anwälte leisten können, vor Gericht nicht im Vorteil?
Klar ist: Die Gerichte urteilen ohne Ansehen der Person und unabhängig davon, wie teuer der Anwalt ist. Wichtig ist eine Art Waffengleichheit zwischen den Beteiligten in einem Verfahren. Bei Fällen, in denen eine besonders hohe Spezialisierung erforderlich ist, muss es deshalb möglich sein, die Richterbank durch Spezialisten zu verstärken, selbst wenn sie gar keine Juristen sind.
Warum gibt es das nicht schon längst?
Es ist natürlich Neuland, hierfür wären gesetzliche Änderungen notwendig. Ganz wichtig ist mir: Eine solche Besetzung sollte nicht vorgeschrieben sein. Den Gerichten sollten wir aber die Möglichkeit verschaffen, in einem Verfahren Spezialisten aufzunehmen.
Warum reichen Gutachter nicht aus, um den Richtern Expertise zur Verfügung zu stellen?
Es ist ein großer Unterschied, ob ein externer Gutachter für eine bestimmte Fragestellung hinzugezogen wird oder ob die Expertise die ganze Zeit auf der Richterbank vorhanden ist. Der Spezialist auf der Richterbank begleitet den gesamten Prozess, kann die richtigen Fragen stellen und so ein Problembewusstsein für Aspekte schaffen, die ansonsten untergingen. Ein Gutachter dagegen kann nur Fragen beantworten, auf die zuvor jemand gekommen ist. Das reicht nicht immer aus.
Bei welchen Themen würde das Sinn machen?
Wichtige Bereiche wären zum Beispiel das Kapitalanlage-, das Arzthaftungs- und das Baurecht.
Sind Richter abhängig von dem, was der Gutachter sagt?
Bei manchen, zum Beispiel technischen Themen gibt es zuweilen eine gewisse Ohnmacht des Gerichts gegenüber dem Gutachter. Die Richter sind juristische, keine technischen Experten. Sie sind zwar gehalten, Entscheidungen auf der Basis ihrer eigenen Erkenntnisse zu treffen. Doch manchmal können Gutachten wegen der komplexen Materie nicht hinreichend kritisch hinterfragt werden. Das müssen wir ändern.
Bei großen Wirtschaftsstraftaten kommt auffällig oft das gleiche Urteil heraus: zwei Jahre auf Bewährung – also das Strafmaß, mit dem eine Haftstrafe gerade noch vermieden wird. Dieses Urteil gab es zum Beispiel bei Ex-Post-Chef Klaus Zumwinkel, bei Ex-VW-Vorstand Peter Hartz . . .
. . . nicht aber bei Uli Hoeneß . . .
. . . dafür jedoch bei Boris Becker. Muss der Bürger da nicht das Gefühl haben, dass teure Anwälte maßgeschneiderte Urteile erwirken können?
Belastbare Zahlen, mit denen sich ein solcher Trend belegen ließe, gibt es nicht.
Aber es gibt in großen Verfahren häufig Deals, bei denen ein Teil der Vorwürfe gegen ein Geständnis fallengelassen wird.
Solche Deals können die Gerichte bei Verfahren entlasten, die ansonsten endlos wären. Sie sind heute nichts Anrüchiges mehr, weil sie klaren Regeln folgen und durch die nächste Instanz nachprüfbar sein müssen.
Trotzdem gibt es in der Bevölkerung das ungute Gefühl, man könne sich sein Recht kaufen, indem man teure Anwälte beauftragt.
Um diesem Eindruck entgegenzuwirken, muss man nicht die Deals abschaffen. Man käme schon sehr viel weiter, wenn die Richterbank bei Bedarf genauso hochkarätige Sachexperten aufbieten könnte wie andere Prozessbeteiligte. Sie könnten dann die Behauptungen spezialisierter Anwaltskanzleien kritischer hinterfragen. Diese Augenhöhe ist heute nicht immer gegeben.