Das Foto von 1973 zeigt das Industrieareal an der Pragstraße Foto: Brugger/StN

Warum das neue "Nord"-Areal des Staatstheaters mehr ist als Probebühne und Spielstätte.

Stuttgart - Gern und viel wird in Stuttgart aktuell über Zukunftsperspektiven diskutiert. Spannend aber ist auch der Blick zurück. 30.000 Arbeitsplätze bot einst das Industrieareal an der Pragstraße - von deren Verschwinden hat sich der größte Stadtteil der Landeshauptstadt, Bad Cannstatt, bis heute nicht erholt.

Sechs Spuren rauscht der der Autoverkehr auf der Pragstraße der Landeshauptstadt, meist stockt er. Hinauf über den Verkehrsknotenpunkt Pragsattel in Richtung Feuerbach, Kornwestheim, Ludwigsburg und weiter zur Autobahn A 81. Hinunter Richtung Neckartal. Achtlos geht es vorbei an nur ahnbaren Grünflächen auf der einen Seite (tatsächlich verbergen sich hinter der Schutzmauer der Rosensteinpark und der Botanisch-Zoologische Garten Wilhelma), achtos geht es vorbei an Wohn- und Bürogebäuden aus einer offensichtlich längst nicht mehr guten Zeit auf der anderen Seite.

"Eckardt" ist über dem vergleichsweise kleinen Eingang des zentralen Baus zu lesen, Verweis auf den um 1900 beginnenden Innovationsschub, der die Pragstraße zu Deutschlands wichtigster Industriestraße machte. 1873 hatte J. C. Eckardt die "Erste Süddeutsche Manometer Fabrik" eröffnet, der Maschinenbauer Werner & Pfleiderer begann am Fuß der Pragstraße, zwischen 1904 und 1910 folgten in kurzem Abstand die 1926 in den Schwedischen Kugellagerfabriken (SKF) aufgehende "Norma-Compagnie", die Fortuna-Werke (mit Maschinen zur Lederbearbeitung) und in den beginnenden 1920er Jahren dann die aus einer Werkstatt für Zweitaktmotoren des Flugzeugpioniers Hellmut Hirth (Sohn übrigens des Norma- und Fortuna-Begründers Albert Hirth) hervorgegangene Kolbenproduzent Mahle. Später kam schließlich der Motorenteile-Produzent Wizemann dazu - und auch dieses Unternehmen bot bis Ende der 1970er Jahre sichere Arbeitsplätze.

Pragstraße als Industriestraße Nummer eins

Ursprünglich begrenzt von Neckarufer und aufwärts von den Weinbergen entlang des Schnarrenbergs, schaffte sich die bald als Deutschlands Industriestraße Nummer eins geltende Pragstraße bald ihre eigene Realitäten. 1909 unterstützte die Straßenbahnlinie von Bad Cannstatt nach Feuerbach die Entwicklung. Fortuna nannte man die zentrale Haltestelle, und am Fortuna-Werkstor war zu lesen: "Ein Hoch der Stadtverwaltung für die Verkehrsentfaltung! Kommt jetzt noch Kanalisation und Gas, dann macht das Steuerzahlen wirklich Spaß."

Der Spruch mag heute seltsam klingen, er belegt indes eine Identifikation mit dem Standort. Und eben diese bestimmte auch Jahrzehnte den Lebensrhythmus zwischen Pragsattel und Neckarvorstadt.

Ob unten an der Neckarstraße oder weiter oben in den bis in die frühen 1960er Jahre erst vollständig erschlossenen Wohngebiete oberhalb der Fabriken - wer sich hier ansiedelte, arbeitete zumeist an der Pragstraße, "beim Mahle", "beim Eckardt", "beim Wizemann" - und natürlich "bei SKF" und "bei Fortuna". Ein soziales Leben der kurzen Wege war es, bestimmt von zahlreichen Gastwirtschaften, von nachmittäglichen und abendlichen Vereinsaktivitäten.

Kultur entdeckte Quartier für sich

Auch die Kultur entdeckte die Spannung dieses Quartiers für sich. Die Weinstube zum Urban ("Scharfes Eck") der Familie Siegloch wurde in den 1960er Jahren zum Treffpunkt der Kunstszene. Und an die Kultur auch dachte man, als in den späten 1980er Jahren der schleichenden die sichtbare Verödung des Quartiers gefolgt war. Das Wizemann-Areal hatte man sich als Kreativstandort ausgesucht. Der Anlauf als Forum freier Tanz- und Theatergruppen misslang indes. Ein Club aber ("Zapata") ist fraglos kein Schlüssel für den Strukturwandel. Umso weniger, als vor allem das Aus für manch kleineren Betrieb im Schatten der großen Fünf für das Gesamtareal nichts Gutes verhieß: Die Arbeit ging, die Bodenvergiftung blieb. Wo aber über Jahre nur Kosten drohen, sind Ideen schwer einzuklagen. Aus dem vormals sozial blühenden wurde ein zunehmend sich selbst überlassenes Areal. Zukunft sieht anders aus.

Und heute? Zum Löwentor hin künden Bautafeln seit Jahren von einer angeblich oder tatsächlich verheißungsvollen Zukunft, im "Zapata" wird noch getanzt, und bei Eckardt müht man sich unter der globalen Foxboro-Flagge um den Wiederanschluss an Erfolg durch Präzision. Ein geplanter Strukturwandel sieht anders aus, und leicht kann man auf den Gedanken kommen, das zeitlich lange Nichts zwischen Neckar und Löwentor wirke einem nun inhaltlichen ziellosen Irgendwie entgegen.

Vor diesem Hintergrund ist das Engagement von Stadt und Land für die Umnutzung ehemaliger Fabrikations- und Lagerhallen in Depotflächen, (Oper- und Schauspiel-)Probebühne und (Schauspiel-)Spielfläche des Staatstheaters Stuttgart weit mehr als nur ein räumliches Ereignis. "Das Nord" ist ein Impuls, ist ein finanziell stabiler Dorn im sich abzeichnenden Büro-Ungefähr. Vor allem das von Hasko Weber auch als Diskussionsforum geführte Staatsschauspiel dürfte Gefallen daran finden, die Geschichte des "Nord"-Ortes aufzugreifen. Das "Nord" ist Wasser für ein verdörrtes Quartier - und ein erster Schritt, das Gesamtareal Pragstraße neu zu denken.