Der Gewerkschaftsvorsitzende Jörg Hofmann wendet sich gegen eine Schwarzmalerei der Metallarbeitgeber. Foto: dpa/Britta Pedersen

IG-Metall-Chef Jörg Hofmann kritisiert die Krisendarstellung durch die Arbeitgeber – sie würden „Panikmache“ betreiben. In der Tarifrunde hält er sich sogar unbefristete Streiks anstelle von 24-Stunden-Warnstreiks offen.

In der Metall- und Elektroindustrie macht die Wirtschaft zu Beginn der Tarifrunde mächtig Druck – Gewerkschaftschef Hofmann hält seine Sicht dagegen.

 

Herr Hofmann, die Hiobsbotschaften aus der Wirtschaft häufen sich in einer selten erlebten Dynamik – ist das für Sie kein Anlass zu großer Sorge?

Zunächst mal kann man von einem guten ersten Halbjahr sprechen. Und für die Mehrzahl der Betriebe gilt, dass sie weitgehend die gestiegenen Kosten bei Energie und Rohstoffen in den Preisen weiterreichen können. Wir sehen an zwei Stellen, wo es schwierig wird: Die Konsumneigung der privaten Haushalte nimmt ab. Das erkennen wir jetzt bei den Aufträgen in den konsumnahen Industrien, wie in der Möbelindustrie oder der weißen Ware. Das trifft aber Unternehmen, die drei Jahre keine Krise kannten.

Und der zweite Risikobereich?

Das sind oft kleine und mittlere Unternehmen mit hoher Energieintensität, die nicht in der Lage sind, die gestiegenen Kosten über höhere Preise weiterzugeben. Bei Gießereien oder Härtereien haben wir teilweise existenzielle Probleme, weil sie schon vorher keine Riesenmargen hatten. Dort geht es ans Eingemachte.

Was bedeutet das?

Die Klagen aus der Industrie haben einen kleinen realen Kern. Diesen für die gesamte Industrie zu verallgemeinern, ist aber unseriös. Das entspricht nicht der Gesamtlage. Wenn Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger auf dem Arbeitgebertag die bisher schwerste Krise der Republik proklamiert, spricht er gegen jegliche Einschätzung aller Wirtschaftsforschungsinstitute – auch derer, die eine Rezession im Winterhalbjahr vorhersagen. Das ist Panikmache.

Ist die Prognose der Forschungsinstitute keine Mahnung zur Zurückhaltung?

Im Gegenteil. Die Forschungsinstitute begründen die Rezessionsgefahr wesentlich mit einem schwächelnden privaten Konsum, der derzeit 95 Prozent zum Wachstum beiträgt. Wir müssen Auftragseinbrüche in den konsumnahen Sektoren verhindern: Das ist ein bisschen die Metall- und Elektroindustrie, vor allem aber der Bereich Einzelhandel, Gaststätten und so weiter. Es zeigt, wie wichtig die Steigerung der privaten Nachfrage ist, wenn sich die Krise nicht vertiefen soll.

Im Mittelstand fürchtet jeder dritte Betrieb um seine Existenz – kann sich die Metallindustrie davon abkoppeln?

Das kann sie nicht, aber sie würde mit einer Lohnzurückhaltung die Tendenz verstärken.

Vor dem Sommer sagten Sie, dass im Falle eines Gasembargos neu nachgedacht werden müsse. Der Lieferstopp ist jetzt gegeben, selbst wenn sich die Gasmangellage noch nicht eingestellt hat?

Kanzler Scholz hat jetzt bei der Konzertierten Aktion festgestellt: Eine Gasmangellage im Winter 2022/23 gibt es nicht – dank des schnellen Handelns der Regierung, russisches Gas durch andere Bezugsquellen zu ersetzen, die Speicher zu füllen, und dem Beitrag vieler, den Gasverbrauch einzuschränken. Immer weiter die Schallplatte von der drohenden Gasmangellage aufzulegen, ist faktenlos. Wir brauchen keine Fake-News, sondern verantwortliches Handeln. Unternehmen und Haushalte müssen mit einer Vervielfachung des Gaspreises fertig werden, was auch massiv mit Spekulation zu tun hat.

Sehen Sie kein Risiko, dass die IG Metall wie 2008 bei einer Lohnforderung von ebenfalls acht Prozent wieder „mit Vollgas in die Garage fahren“ muss?

Damals sind wir mit der Lehman-Krise konfrontiert gewesen und in der Folge mit einem Abbruch der Weltwirtschaft. Im Moment sehe ich auf dem Weltmarkt eine Dämpfung. Ein externer Schock wie damals ist aber nicht erkennbar. Krisenszenarien drohen in Europa und Deutschland dann, wenn es nicht gelingt, die Teuerungsraten nach unten zu drücken. Das liegt aber in der eigenen Hand von Regierung und Unternehmen.

Also heute würden Sie Krisentarifabschlüsse wie 2008 oder wie in der Coronazeit in diesem Jahr ausschließen?

Die IG Metall ist immer in der Lage, ihr verantwortliches Handeln neu zu justieren. Ich sehe dazu aber keine Notwendigkeit heute. Ich bin noch entschiedener als zu Beginn der Tarifrunde: Wir brauchen eine deutliche Stärkung der privaten Haushalte.

Muss die IG Metall mit individuellen Krisenvereinbarungen, den „Pforzheim-Verträgen“, Betriebe retten helfen?

Ich will das im Einzelfall nicht ausschließen, sehe aber keine große Welle in der Metall- und Elektroindustrie auf uns zukommen. Das ist in anderen Branchen, nicht nur bei Bäckern, anders. Hier braucht es rasch bessere Zugänge zu Energiekostenzuschüssen. Ich habe gehofft, dass hierzu die Regierung schon konkrete Vorschläge auf den Tisch legen würde. Soweit notwendig, würden wir, wie in der Vergangenheit auch, in Einzelfällen Lösungen im Interesse der Beschäftigungssicherung finden. Was aber klar ist: Die Gas- oder Supermarktrechnungen der Beschäftigten unterscheiden nicht, ob sie im gut gehenden Großbetrieb arbeiten oder in der Not leidenden Gießerei. Deswegen brauchen wir auch keine weitere tarifliche Differenzierung bei den anstehenden Entgelterhöhungen.

Besteht nicht die Gefahr einer überhöhten Erwartungshaltung an der Basis – wie gehen Sie mit dem Druck um?

Was meinen Sie mit überhöht? Die Menschen bekommen die Briefe ihrer Energieversorger mit einer Verdreifachung ihrer monatlichen Abschlagszahlungen für Gas ins Haus, im Supermarkt kostet der gleiche Einkauf am Samstag glatte 20 Prozent mehr. Acht Prozent mehr Entgelt für die nächsten zwölf Monate ist der Versuch, hier eine Linie zu ziehen, die für die Arbeitgeber herausfordernd, aber leistbar ist. Dass die Arbeitgeber von einer ganz anderen Welt erzählen, macht es nicht leichter – ebenso, dass da nur eine Zahl konkret im Raum steht. Die von der Bundesregierung angeregten steuer- und sozialabgabenfreien 3000 Euro sind eine brauchbare Hilfe, wenn sie dazu dienen, mehr Netto vom Brutto einer Tariferhöhung zu bekommen. Sie befreien aber auch die Arbeitgeber in diesem Umfang von Sozialabgaben. Wichtig ist zudem, dass es sich bei den 3000 Euro nicht notgedrungen um Einmalzahlungen handeln muss, sondern dass damit auch das monatliche Entgelt erhöht werden kann. Entscheidend wird sein, um wie viel Prozent sich die Entgelte am Ende einer Tariflaufzeit dauerhaft erhöht haben.

Erwarten Sie von der Konzertierten Aktion nach dem Treffen am Donnerstag mehr Entlastung der Beschäftigten?

Wenn sich der Abschlag auf der Gasheizungsrechnung vervielfacht, bedeutet das für einen Durchschnittshaushalt oft über 3000 Euro statt bisher 900 Euro Gaskosten im Jahr. Das ist ein Monatsgehalt. Hinzu kommen die teureren Lebensmittel und der Sprit an der Tankstelle. Das ist eine enorme Belastung, die wir nicht allein über den Tarifvertrag ausgleichen können. Daher halten wir es für notwendig, dass die Bundesregierung einen zweiten Energiebonus dieses Jahr beschließt. Wichtig für die Haushalte ist, dass Entlastungen rasch wirken. In vielen Punkten gibt es nun mehr Klarheit: So haben wir beim Gas- und Strompreisdeckel klare Verabredungen für den Entscheidungsprozess getroffen. Die Regierung muss die Taktzahl weiter hoch halten.

Die IG Metall will sich nicht lange mit Warnstreiks aufhalten. Kommt es Mitte November zu Ganztagsstreiks?

Wir merken, dass extrem viel Druck auf der Leitung ist. Ich bin aber keiner, der morgens mit Arbeitskampfszenarien im Kopf wach wird. Jetzt stehen Verhandlungen an. Wir lassen es uns dabei offen, ob – sollte es notwendig sein – nach Warnstreiks die 24-Stunden-Streiks kommen oder ob wir dann gleich in die Urabstimmung in der Fläche gehen.

Der IG-Metall-Vordenker

Schwabe
 Wenn Jörg Hofmann im Oktober 2023 mit fast 68 Jahren als IG-Metall-Chef aufhört, dann tritt eine Galionsfigur der Gewerkschaften ab. Der Esslinger ist – ohne großes Aufheben darum zu machen – stets auch Vordenker und führender Ansprechpartner für die Bundespolitik.

Dämpfer
 2015 war der frühere Bezirksleiter im Südwesten mit 91 Prozent Zustimmung auf dem Gewerkschaftstag gestartet – 2019 erhielt er enttäuschende 71 Prozent.