Das Hölderlin-Jahr ist noch längst nicht vorbei: Die Ausstellung in der Württembergischen Landesbibliothek „Aufbrüche – Abbrüche“ markiert einen Höhepunkt.
Stuttgart - Gesicht oval, Haare kastanienbraun, Stirn hoch, Nase lang – hinter diesen Allerweltsmerkmalen würde man nicht unbedingt eine der eigenwilligsten Gestalten in der Ahnengalerie der großen Geister vermuten. Sie finden sich auf einem Ausreisepass von Bordeaux nach Straßburg, ausgestellt im Mai 1802 für einen gewissen Friedrich Hölderlin. Ein halbes Jahr zuvor war dieser zu Fuß in die westfranzösische Stadt aufgebrochen, um eine Hauslehrerstelle bei dem Hamburger Weinhändler Daniel Christoph Meyer anzutreten. Warum er bereits nach kurzer Zeit seinen Aufenthalt wieder abbrach und wenig später verwirrt und verwahrlost in Stuttgart ankam, ist eine der großen unbeantworteten Fragen der Hölderlin-Philologie.
„Aufbrüche – Abbrüche“ hat die Württembergische Landesbibliothek ihre Ausstellung zum 250. Geburtstag des Dichters überschrieben, in der man nun die Beschreibungen des französischen Dokuments mit dem überlieferten Hölderlin-Bild abgleichen kann. Doch ein Titel kann auch zum Omen werden. Mittlerweile lässt sich nicht mehr genau sagen, ob er nicht ebenso gut auf die Entstehungsgeschichte der Schau passen würde wie auf die radikalen Wechsel im Leben und Wirken ihres Widmungsträgers.
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Schon vor drei Jahren hat man mit den Überlegungen begonnen, wie die hier verwahrten Handschriftenschätze zum Jubiläum ins rechte Licht gerückt werden könnten. Das zum Haus gehörende Hölderlin-Archiv verfügt mit knapp 3000 Autografen über den weitaus größten Teil der poetischen Hinterlassenschaft des Dichters. Und was lag näher, als mit der Ausstellung nicht nur dessen Gedenkjahr zu eröffnen, sondern zugleich auch die neue Erweiterung der Landesbibliothek von Lederer Ragnarsdóttir Oei Architekten. Aber was folgte, waren Aufbrüche und Abbrüche. Immer neue Verzögerungen der Fertigstellung des repräsentativen Baus ließen einen Termin nach dem anderen platzen. Und als man schließlich beschlossen hatte, mit Hölderlin doch wieder in die früheren Räume auszuweichen, kam Corona.
Nun ist es so weit. Im neuen Domizil markiert die von dem Leiter des Hölderlin-Archivs, Jörg Ennen, kuratierte Ausstellung den Wiederaufbruch in die vom Virus unterbrochenen landesweiten Feierlichkeiten, sofern das thematische Auf und Ab nicht gleich wieder durch eine zweite Welle seine Bestätigung erfährt.
Ein wenig bunt im Kopf
Weil die neuen großzügigen Räumlichkeiten über eine Vollklimatisierung verfügen, ist es möglich, dass die kostbaren Originale auch über einen längeren Zeitraum gezeigt werden können. Hier liegen sie nun also, Blätter, deren brüske Schriftzüge den Titel des Ganzen auf ihre Weise widerspiegeln: die in Stuttgart entstandenen Elegien, „Der Gang aufs Land“, „Brod und Wein“, „Stutgard“ oder die Hymne „Andenken“, in der Hölderlin die Erfahrungen seiner Frankreichreise verarbeitet hat. „Ein Bleibendes stiften die Dichter“ ist auf dem Blatt noch deutlich zu lesen, erst später wurde daraus jenes „was bleibet“, das zu den Top Ten der Lieblingszitate zählt, mit denen man sich gerne den Gang durch vielstrophige Rätselhaftigkeiten abkürzt.
Während die Ausstellung in Marbach Hölderlins Dichtung bis zur Unkenntlichkeit in ihre Einzelteile zerlegt hat, um die Sprache der Poesie zu ergründen, holt man in Stuttgart Hölderlin auf den Boden der Tatsachen zurück, die hier gehütet werden. Ausgangspunkt ist Hölderlins Aufenthalt in der Stadt um 1800, der einen Neubeginn in seinem Leben und Schaffen markiert, für den jenes „Komm! ins Offene, Freund!“ steht, ein weiteres der Zitat-Evergreens, das den Aufbruch in das zerklüftete Spätwerk markiert. Hölderlin erhoffte sich durch den Kontakt zu Verlegern Publikationsmöglichkeiten, im Haus seines Freundes Christian Landauers kam er in Kontakt mit dessen republikanischen Freunden. „Überhaupt ists seit ein paar Wochen ein wenig bunt in meinem Kopfe“, ist in einem Brief zu lesen.
Gründlich verdreht freilich wurde sein Kopf bereits einige Jahre zuvor in Frankfurt durch die Begegnung mit der zum Idealbild Diotima verklärten Bankiersfrau Susette Gontard, deren Kinder Hölderlin unterrichtete. Die Stationen dieser großen Passion zeichnet die Ausstellung nach bis zu den Gedenkwegen, die findige Tourismusmanager später für Germany’s greatest Lovestory gebahnt haben. Hölderlins Briefe wurden von dem eifersüchtigen Ehemann der Angebeteten vernichtet. Erstmals aber sind hier die Originale des brieflichen Verkehrs in der Gegenrichtung zu sehen, die in ebenmäßige Schönschrift gefassten Gefühlssuperlative Susette Gontards. „Wie ist nun, seit Du fort bist, um und in mir alles so öde und leer, es ist als hätte mein Leben, alle Bedeutung verlohren.“ Mit digitaler Übersetzungshilfe wird auch dem Handschriftenunkundigen die Sprache des Herzens verständlich.
Auch eine Pistole darf nicht fehlen
Steht Frankfurt von Stuttgart aus betrachtet für die Vorgeschichte, so die Frankreichreise für das, was folgt. Eine Pistole ergänzt die papierene Flachware von Briefen, Billetts und zeitgenössischen Illustrationen von Bordeaux und erinnert an die Gefahren der einsamen Wanderung: „auf den gefürchteten überschneiten Höhen der Auvergne, in Sturm und Wildniß, in eiskalter Nacht und die geladene Pistole neben mir im rauhen Bette“.
In der Wirkungsgeschichte Hölderlins führen alle Wege wieder zurück nach Stuttgart, seit der zum George-Kreis zählende Norbert von Hellingrath in den ersten Jahren des letzten Jahrhunderts in der damals noch Königlichen Landesbibliothek auf Hölderlins-Pindar-Übertragungen gestoßen ist. Was bis dahin als ästhetische Zerrüttung einer wahnhaften Gemütserkrankung galt, wurde nun in seiner radikalen Kühnheit und Modernität erkannt. Wie sich seitdem das Bild gewandelt hat, zeigt ein Blick auf die Reihe früherer Gedenkausstellungen: lokaler Genius, Vaterlandssänger, Jakobiner.
Hier wird nun das letzte Kapitel aufgeschlagen. Es enthält die stringente Erzählung elementarer Auf- und Abbrüche. Auch Laien werden darin die vielen Schichten eines Werks zugänglich, die sonst im Allerheiligsten unverständlicher Handschriften verschlossen bleiben.
Info
Die Schau „Aufbrüche – Abbrüche“ in der Württembergischen Landesbibliothek wird an diesem Montag wegen der Virusepidemie vor geschlossener Gesellschaft eröffnet. Von Dienstag bis Freitag ist der Besuch zwischen 9.30 und 19 Uhr sowie Samstag und Sonntag von 11 Uhr bis 17 Uhr möglich.
Weil sich wegen des Infektionsschutzes in der Ausstellung nur 40 Personen gleichzeitig aufhalten können, sollte man sich unter hier einen Zeitabschnitt reservieren.