Folter, Operationen ohne Betäubung, exzessive Gewalt: Der Prozess gegen Anführer des Germanen Osmania Boxclubs in Stuttgart gibt Einblicke in eine brutale Subkultur. Doch auch die Ankläger stehen in der Kritik.
Stuttgart - Höchste Sicherheitsstufe im beschaulichen Stuttgarter Stadtteil Stammheim. Hubschrauber kreisen, an jeder Kreuzung sind Einsatzwagen postiert. Von einer „Bedrohungslage“ spricht die Staatsanwaltschaft. Die befürchtete Straßenschlacht zwischen Anhängern des nationaltürkischen Boxclubs Osmanen Germania und ihren kurdischen Gegnern bleibt indes aus.
Auch im in die Jahre gekommenen Gerichtssaal bei der JVA Stammheim, der 1975 für die RAF-Prozesse geschaffen wurde, sind massiv Bereitschaftspolizisten postiert. Der Medienandrang ist groß, von ARD und ZDF bis zum Stern sind Reporter zum Auftakt gekommen – und zahlreiche Zuschauer, die allesamt durch intensive Sicherheitskontrollen müssen. Mit fast zwei Stunden Verzögerung beginntdas Mammutverfahren,das bis Januar 2019 dauern soll. Die acht muskelbepackten und teils wild tätowierten Angeklagten werden in Handschellen herein geführt, erst am Platz werden die Schließen gelöst. Sobald nur einer zur Toilette den Saal verlässt, werden alle sofort wieder gefesselt. In früheren Osmanen-Prozessen gab es bereits Attacken im Saal, daher wird auf Nummer sicher gesetzt.
Präsident des Chapters Stuttgart als Schlüsselfigur
Auf der Anklagebank sitzen auch Mehmet Bagci (47) und Selcuk Sahin (38), selbst ernannter Weltpräsident und Vize der Osmanen, die von Hessen aus die 400 Mann starke Organisation geleitet haben sollen. In fast alle Delikte verwickelt soll Levent Uzundal (35) sein, der Präsident des Chapters Stuttgart, der sogar seine Freundin zur Prostitution gezwungen haben soll. Als er die Szene betritt, fließen auf den Zuschauerrängen Tränen offenbar von Angehörigen des Osmanen-Kriegers.
Die Ermittler haben sich fast zwei Jahre auf dieses Verfahren vorbereitet, die Fäden laufen bei Michael Wahl zusammen, dem Experten für Verbrechen der Osmanen bei der Staatsanwaltschaft. Seine Anklageschrift, die anderthalb Stunden verlesen wird, hört sich an wie ein Sammelsurium an Grausamkeiten, eine Geschichte aus einem parallelen Universum. Es ist eine Subkultur, in der es um Gefolgschaft und Hierarchie, Ehre und Nationalstolz geht – und um einen Machtkampf, der im Zweifel ohne Rücksicht auf das Leben des Gegenübers mit Baseballschlägern oder Revolvern ausgetragen wird.
Es sind zwei Fälle, die aus der Orgie an Gewaltherausragen. Der eine ist der brutale Überfall in Ludwigsburg am 21. November 2016. Der Drahtzieher soll hier laut Anklage Uzundal gewesen sein. „Es ging um eine Machtdemonstration“, so Staatsanwalt Wahl. Mit 20 Mann des Chapters Stuttgart zog man durch die Straßen, um Anhänger des kurdischen Netzwerks Bahoz zu verprügeln. In der Karlstraße machten sie einen ihrer Gegner aus – und stürzten sich auf ihn.
Überfall am Bahnhof Ludwigsburg aus Wendepunkt
„Hört nicht auf, der darf nicht wieder aufstehen“, sollen sie angefeuert worden sein. Mit Baseballschlägern und Äxten schlugen sie laut Anklage auf den hilflos am Boden Liegenden ein. Er erlitt schwere Verletzungen – und wäre wohl zu Tode geprügelt worden, wenn nicht Passanten die Polizei gerufen hätten. „Es blieb dem Zufall überlassen, ob die Verletzungen zum Tode führten“, sagt der Staatsanwalt. Die Szene war der Beginn der Ermittlungen gegen die Osmanen, weil sie das Sicherheitsgefühl der Bürger massiv beeinträchtigt hat. Die Ermittlungsgruppe „Meteor“ hat die Kreise immer weiter gezogen und in Kooperation mit dem Landeskriminalamt Hessen auch die Chefs Bagci und Sahin mit Gewalttaten in Verbindung gebracht.
Dabei geht es um sogenannte Abstrafungsaktionen. Es lief immer nach dem gleichen Muster: Wer aussteigen wollte, wurde zur Zahlung von 500 oder auch mal 2000 Euro aufgefordert – und zu einer Osmanen-Versammlung einbestellt, etwa in Altbach (Kreis Esslingen) am 15. November 2017. Dort mussten sich die Abtrünnigen laut Anklage aufstellen und vor versammelter Mannschaft malträtieren und demütigen lassen: Kopfstöße, Tritte, Bedrohung mit Schusswaffen. In einem anderen Fall in Wetzlar wurde sogar gedroht: „Wenn wir das nächste Mal kommen müssen, wirst du zerteilt.“ Einmal wurden Abtrünnige gar gezwungen, auf eine PKK-Fahne zu urinieren.
Abtrünniger Anhänger wird gefoltert
Der zweite große Tatkomplex wich von der üblichen Masche ab. Ein Osmanen-Mitglied des Chapters Stuttgart weigerte sich, gegen Kurden Gewalt anzuwenden. Ein Verstoß gegen die interne Hackordnung. Laut Anklage soll wiederum Levent Uzundal, der in Gäufelden-Nebringen bei Herrenberg wohnte, einen perfiden Plan geschmiedet haben – angeblich abgestimmt mit dem Osmanen-Vize Selcuk „Can“ Sahin. Sie boten dem Kritiker freundlich an, in einer Herrenberger Wohnung vor einer Reise zu übernachten. Dort verabreichten sie ihm laut Anklage am 3. Februar 2017 Schlafmittel – damit begann für den jungen Mann ein dreitägiges Martyrium. Noch während er schlief, schlug ein Osmanen-Anhänger ihm mit einer schweren Eisenzange mehrere Zähne aus, so die Anklage. Zudem schossen sie dem stark blutenden Mann mit einer Kleinkaliberwaffe in den Oberschenkel. Als er das Bewusstsein verlor, fesselten sie ihn und traktierten ihn mit Faustschlägen und Tritten. Sie forderten Geld, Smartphone, Laptop und Autoschlüsssel von ihm – und ließen dennoch nicht von ihm ab.
Tagelanges Martyrium in Herrenberg
Uzundal soll zu Vize Sahin nach Bad Homburg gefahren sein, um sich Anweisungen zu holen. Als sie zurück waren, wurde dem Opfer laut Anklage das Projektil mit Messer und Pinzette ohne Betäubung herausoperiert, zudem wollten sie ihm ein Ohr abschneiden.
Nach drei Tagen gelang dem Mann die Flucht. Diese Taten und ähnliche Abstrafungsaktionen in Hessen sollen von Sahin und dem Präsidenten Mehmet Bagci angeordnet worden sein. Letzterer soll in Telefonaten zudem versucht haben, Zeugen zu seinen Gunsten zu beeinflussen, was Abhörprotokolle belegen.
Eine wahre Heerschar von Verteidigern nutzt die große Bühne, um Anträge zu stellen, etwa auf Aussetzung des Verfahrens. Am weitesten geht der Anwalt von Selcuk Sahin, der den Staatsanwalt Michael Wahl ablösen lassen will. Sein Vorwurf: Bei der bundesweiten Razzia am 13. März hätten LKA-Beamte bei der Durchsuchung der Zelle eine Kiste mit der Aufschrift „Verteidigerpost“ durchsucht und seine Notizen gelesen.
Wahl rechtfertigt die Aktion – es sei es um „Gefahrenabwehr“ gegangen: Die Aktion habe dazu gedient, ein Vereinsverbot für die Osmanen Germania zu erlassen. Auch der Vorsitzende Richter Joachim Holzhausen, der das Verfahren souverän führt, ist darüber unglücklich: „Das ist gelinde gesagt misslich.“ Am 16. April geht es weiter.