Ritalin hilft bei Hyperaktivität bei Kindern – und wird immer häufiger von den Eltern genommen Foto: dpa

Laut DAK-Gesundheitsreport nimmt Hirndoping im Südwesten zu. Betroffenen sind die Nebenwirkungen oft nicht bewusst.

Stuttgart - Michael Wiegemann ist im Stress. In drei Tagen muss er ein wichtiges Projekt abschließen. Der Kunde wartet schon, doch Wiegemann ist in Zeitnot. Der 43-Jährige beschließt, die Nächte durchzuarbeiten – dazu schluckt er Methylphenidat, besser bekannt unter dem Handelsnamen Ritalin. Entwickelt wurde der Wirkstoff zur Behandlung von Hyperaktivität, etwa für den Einsatz bei Kindern mit dem „Zappelphilipp-Syndrom“ ADHS. Nach Beteuerungen meist anonymer Nutzer im Netz soll das Mittel für einige Stunden außerordentlichen Arbeitseifer ermöglichen.

So wie Michael Wiegemann – der in Wahrheit einen anderen Namen hat – geht es mehr Arbeitnehmern als vielleicht gedacht: Nachdem die Krankenkasse DAK im März in ihrem Gesundheitsreport von bundesweit drei Millionen Beschäftigten spricht, die zur Steigerung ihrer Leistung oder gegen Nervosität bereits verschreibungspflichtige Medikamente eingenommen haben, hat sie nun auch die Zahlen für Baden-Württemberg vorgelegt: Demnach haben bis zu 746 000 Arbeitnehmer schon ein solches Hirndoping ausprobiert, nahezu 100 000 Berufstätige im Südwesten schlucken regelmäßig Pillen, um konzentrierter zu sein. „Auch wenn Doping im Job noch kein Massenphänomen ist, sind diese Ergebnisse ein Alarmsignal“, sagt DAK-Landeschef Markus Saur.

Für die Studie wertete das Institut für Gesundheits- und Sozialforschung (IGES) die Fehlzeiten aller erwerbstätigen DAK-Mitglieder in Baden-Württemberg aus. Es analysierte außerdem Arzneimitteldaten der Kasse und befragte bundesweit mehr als 5000 Beschäftigte im Alter zwischen 20 und 50 Jahren. Das Ergebnis: 7,5 Prozent der Erwerbstätigen im Südwesten haben Aufputschmittel eingenommen. Während Männer ihre Leistung steigern wollen, hellen Frauen eher ihre Stimmung auf. Und die Gruppe der 40- bis 50-Jährigen schluckt zwei- bis dreimal so häufig solche Medikamenten wie die der 20- bis 40-Jährigen. Die Experten gehen von einer hohen Dunkelziffer aus.

Es seien dabei nicht unbedingt die Manager, die zu Aufputschmitteln griffen, sondern häufiger geringer qualifizierte Arbeitnehmer, deren Aufgabe monoton sei, oder Beschäftigte, die im Kundenkontakt ständig freundlich sein müssten, heißt es im Report.

Dabei beeinflussen Ritalin und Co. die kognitive Leistungsfähigkeit allenfalls kurzfristig und minimal. „Die Wirkung ist für Gesunde meist gar nicht belegt“, sagt Susanne Hildebrandt, wissenschaftliche Mitarbeiterin am IGES. Für Antidepressiva weisen Studien gar keinen Nutzen nach. „Die Medikamente machen weder schlauer noch cleverer“, sagt auch Hans-Peter Medwed, Psychiater und Leiter der Suchtambulanz im Zentrum für seelische Gesundheit Bad Cannstatt. „Man mag konzentrierter sein und kann länger wach bleiben. Die Grenzen der körperlichen Leistungsfähigkeit lassen sich aber nicht überschreiten.“

Doch so hartnäckig sich der Glaube an mehr Leistungsfähigkeit durch Ritalin hält, umso weniger sind den Betroffenen die Nebenwirkungen bewusst: „Die langfristige Einnahme solcher Substanzen birgt die Gefahr, abhängig zu machen“, sagt Susanne Hildebrandt. „Es kann auch zu Kopfweh, Nervosität, Leber- und Nierenschäden bis hin zu Persönlichkeitsstörungen kommen.“ Wer sich oft aufputscht, riskiere zudem Überforderung und Erschöpfung.

Schwer, an diese Tabletten ranzukommen, wird es einem übrigens nicht gemacht: Wer als Gesunder Pillen schluckt, kauft sie nicht nur bei Bekannten, im Internet oder auf dem Schwarzmarkt, sondern bekommt sie auch vom Arzt verschrieben. Laut DAK-Report in der Hälfte der Fälle. „Wenn jemand unbedingt ein Rezept für ein bestimmtes Medikament haben möchte, kommt er mit einer Erwartungshaltung zum Arzt“, sagt der Suchtexperte Medwed. „Zeit wird in unserem Vergütungssystem nicht bezahlt. Würden Ärzte für Gespräche mit Patienten besser entlohnt, würden einige nicht vorschnell zum Rezeptblock greifen.“

Dabei wäre das Mittel für die optimale Leistungsfähigkeit noch viel günstiger – und vor allem ganz legal zu haben: Es braucht nur eine gesunde Ernährung, genug Sport und ausreichend Schlaf.