Der Autor Meredith Wayne Price in der Heimat von Hubert Forner. Foto: Price

Heimat, die Besinnung auf Familie und Herkunft: Dieses Thema findet auf dem Buchmarkt immer stärkere Beachtung. Dass aber der Amerikaner Meredith Wayne Price mit „Gretels Welt“ eine Familiengeschichte aus Franken und Stuttgart erzählt, ist zumindest außergewöhnlich.

Stuttgart - Gretels Welt, das ist das Städtchen Hofheim in Unterfranken, das im Buch Überauen genannt wird. Das ist ihre große Familie, deren Stammbaum fast so verwirrend ist wie das Personal eines russischen Romans. Und mittendrin Gretel Geyer: Geboren 1904 in Hofheim, gestorben 1990 in Stuttgart. Seit 1931 verheiratet mit Otto Forner, mit dem sie nach Stuttgart zieht. Mutter von vier Söhnen, von denen der Erstgeborene, Wolfgang, mit zwei Jahren 1934 an Hirnhautentzündung stirbt. Fortan trotz Kriegs von weiteren Schicksalsschlägen verschont, glücklich mit Mann und Söhnen in Stuttgart, zuerst am Strohberg, dann in der Schlossstraße und schließlich in der Robert-Koch-Straße in Vaihingen, zuhause.

Eine Familie wie Tausende andere, ein Leben, wie es Heerscharen von Frauen in dieser Epoche geführt haben. Nichts Besonderes also, niemand, der Herausragendes geleistet oder von sich reden gemacht hätte.

Aber jeder Mensch ist etwas Besonderes. Und jede Familie hat ihr eigenes Schicksal, das zu erzählen sich lohnt. Mit Freud und Leid, Tragödien und Glück. Meredith Wayne Price, kurz Marty genannt, tut es mit einem liebenden Blick von außen. Dieses Buch ist auch das außergewöhnliche Dokument einer amerikanisch-deutschen Beziehung. Der studierte Historiker, geboren in Indiana (USA), kam 1971 nach Stuttgart und arbeitete hier als Lehrer und Bibliothekar bis 1988 in den Nellingen Barracks. In Stuttgart fand die entscheidende Begegnung seines Lebens statt: „Als junger Mann lernte ich Hubert Forner kennen“, erzählt er. Hubert Forner, den jüngsten Sohn von Gretel und Otto Forner, der wunderbar zeichnen kann und als Dekorateur arbeitet. „Kurz danach“, so Price weiter, „habe ich nach und nach seine ganze Familie kennengelernt. Ich war von ihr sofort akzeptiert, und nun sind wir seit 40 Jahren zusammen.“

Die Ehe ist erkaltet

Das Paar lebt seit Langem in Ormond Beach, Florida, und überstand gerade den Hurrican Matthew. Aber Price und Forner kommen regelmäßig nach Stuttgart und Franken. „Jeder Besuch in ‚Überauen‘, schreibt der Autor im Epilog, „ist für mich, als käme ich heim.“ Als er wieder einmal mit Forner durch die alten Gassen von Hofheim gegangen sei und die Familiengeschichten gehört habe, sei er so bewegt gewesen, dass er beschloss, sie aufzuschreiben. Nun ist das Buch erschienen, kürzlich haben sie es in Hofheim und Stuttgart vorgestellt.

Der Leser lernt Gretel als Zehnjährige kennen und taucht gleich ein in das Leben und den Alltag ihrer Familie, den der Autor in vielen Geschichten, Miniaturen oft nur, atmosphärisch dicht und treffend darstellt. Eine scheinbar heile Welt rund um das Gasthaus zum Goldenen Ritter, in der sich das Mädchen sicher und geborgen fühlt. Beim liebevollen Großvater, den Eltern, Geschwistern, Vettern, Basen und einem sehr geliebten Onkel. Aber das Idyll hat Risse: Die Ehe der Eltern ist erkaltet, die Mutter ist in eine außereheliche Beziehung verstrickt und sieht keinen anderen Ausweg mehr als Selbstmord. Wie schon die Großmutter, die ins Wasser ging. Es waren Unfälle, heißt es in der Familie. Und dann fällt der geliebte Onkel im Ersten Weltkrieg.

Keine Biografie

„Gretels Welt“ ist keine Biografie mit schlichten Daten und Fakten, sondern ein Roman, in dem die Figuren mit Dialogen, Szenen und der Schilderung ihrer Gedan-ken- und Gefühlswelt lebendig werden. Nicht alle sind authentisch, der Autor er-laubt sich das Spiel mit der Fiktion: „Die Cha-raktere sind meine Kreation“, betont der 72-Jährige und verrät: „Ich möchte den Leser mit viel Gefühl mit einbeziehen.“

„Dem Autor gelingt es, den Leser quasi zu einem Mitglied von Gretels Familie zu machen“, bestätigt ihn eine amerikanische Rezension. Umso mehr, als viele Fotos aus dem Familienschatz die Protagonisten zeigen.

Das Leben von Gretel und ihrer Familie spielt sich vor dem Hintergrund der Tragö-dien und Ereignisse des 20. Jahrhunderts ab: zwei Weltkriege, Inflation, Arbeitslosigkeit, Nationalsozialismus, Judenverfolgung, die Befreiung durch die Amerikaner am 9. April 1945 und der Neuanfang. Damit wird der Roman zu einem sehr genauen und detailreich geschilderten Zeitkolorit, das den Respekt vor den Protagonisten noch erhöht: Sie waren keine Nazis. Auch keine Helden. Aber sie haben das NS-Regime mit Anstand und Menschlichkeit überstanden. „Das Buch feiert den Mut einfacher Leute in außergewöhnlichen Zeiten“, rühmt der amerikanische Rezensent Sims Kline.

Die Familie und vor allem die Brüder Hans, Helmut und Hubert sind auch nach dem Tod von Gretel Forner und ihrem Mann Otto (1997 gestorben) noch eng verbunden. Nur so konnte dieses Buch entstehen und auch in deutscher Sprache veröffentlicht werden. Denn Helmut Forner, der in Her-renberg lebt und als promovierter Ingenieur bei einem internationalen Konzern gearbei-tet hat, trug nicht nur sein Wissen über die historischen Hintergründe bei, sondern be-sorgte auch die Übersetzung.

„Die Familiengeschichte, die ich mit viel Fantasie und Liebe erzählt habe, ist zu mei-ner eigenen geworden“, sagt Marty Price. Und vor allem zu einer Liebeserklärung.

Meredith Wayne Price: „Gretels Welt“, 210 Seiten, erschienen im Selbstverlag Uberauen Publishers, Ormond Beach, Florida, USA (www.GretelsWelt.com)