Protest vor dem Zuhause Benjamin Netanjahu: Die Angehörigen der Geiseln sind verzweifelt. Foto: imago/Eyal Warshavsky

Seit über Hundert Tagen harren rund 130 israelische Entführte im Gazastreifen aus. Einstige Geiseln, die wieder frei sind, warnen, weibliche Geiseln könnten nach Vergewaltigungen hochschwanger zurückkehren.

Ein schmaler, gekachelter Raum, vielleicht zehn Quadratmeter groß, zwei Ventilatoren und ein Plastikstuhl: Hier, 20 Meter unter der Erde im Gazastreifen, haben Hamas-Terroristen nach Erkenntnissen der israelischen Armee (IDF) zwischenzeitlich mehrere israelische Geiseln festgehalten. „Wir haben fünf Käfigzellen gesehen, in denen unserer Einschätzung nach zu verschiedenen Zeiten bis zu 20 Geiseln gehalten wurden, ohne jedes Tageslicht, fast ohne Luft, mit einem Mangel an Sauerstoff und furchtbarer Feuchtigkeit“, teilte die Armee bei der Veröffentlichung des Fotos vor wenigen Tagen mit.

Über 130 Geiseln halten die Terroristen noch im Gazastreifen fest. Unter ihnen sind Soldaten und Zivilisten, Männer und Frauen, alte und chronisch kranke Menschen und wohl auch noch zwei Kinder: der vierjährige Ariel Bibas und sein kleiner Bruder Kfir, der im Alter von neun Monaten entführt wurde und letzte Woche ein Jahr alt wurde – sofern er noch lebt. Die Hamas behauptet, die beiden Jungen seien zusammen mit ihrer Mutter bei einem israelischen Militärschlag ums Leben gekommen. Beweise dafür gibt es nicht, die IDF spricht von psychologischer Kriegsführung. Fest steht: Diejenigen Geiseln, die noch leben – Schätzungen zufolge knapp über Hundert –, harren in Gaza unter elenden Bedingungen aus. Ihr Schicksal bewegt die ganze israelische Gesellschaft – und bringt immer mehr Menschen gegen den Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu auf.

Angehörige schreien Frust in der Knesset heraus

In ihrer Verzweiflung greifen die Angehörigen der Geiseln zu immer neuen Mitteln. Einige von ihnen haben Anfang dieser Woche Zelte vor Netanjahus Residenz in Jerusalem aufgeschlagen und angekündigt, so lange zu bleiben, bis die Regierung sich mit der Hamas auf ein neues Abkommen zur Befreiung der Geiseln einige. Bei einem ersten Deal dieser Art waren Ende letzten Jahres 110 Entführte freigelassen worden, im Gegenzug für eine Feuerpause und die Entlassung palästinensischer Häftlinge aus israelischen Gefängnissen. Derzeit sollen Israel und die Hamas unter Vermittlung des Golfstaates Katar um eine Neuauflage dieses Deals verhandeln, doch die Kluft zwischen beiden Seiten, heißt es aus informierten Kreisen, sei noch tief. Und die betroffenen Familien fürchten, dass den Geiseln die Zeit davonläuft.

Am Montag sprengte eine Gruppe von Angehörigen eine Sitzung des Finanzausschusses in der Knesset, dem israelischen Parlament. Während Sicherheitsmänner sie aus dem Raum zu zerren versuchten, schrien die Angehörigen ihren Frust und ihren Schmerz heraus. „Ihr werdet nicht hier herumsitzen, während unsere Kinder sterben!“, brüllte einer von ihnen. „Das kann so nicht weitergehen!“ Der Knesset-Sender übertrug die turbulenten Szenen live im Fernsehen.

Einstige Geiseln berichten Schlimmes

Einen Tag später ging es im Parlament erneut um die Geiseln: Bei einer Anhörung zum Thema sexuelle Gewalt in Geiselhaft berichteten mehrere ehemalige Entführte von ihren Erfahrungen. „Die Terroristen ziehen den Frauen unzüchtige Kleidung an, Puppenkleidung. Sie haben die Frauen in ihre Puppen verwandelt, mit denen sie machen können, was sie wollen“, sagte Aviva Siegel, deren Mann unter den verbleibenden Geiseln ist. Eine zweite frühere Geisel warnte, viele Frauen könnten nach Vergewaltigungen inzwischen schwanger sein.

Netanjahu argumentiert, nur mit massivem militärischem Druck ließen sich die Geiseln befreien. Doch deren Angehörigen überzeugt er damit nicht. Und auch innerhalb der Regierung hat diese Lesart Kritiker. Der ehemalige Armeechef Gadi Eisenkot von der zentristischen Partei Nationale Union, der dem Kriegskabinett angehört, gab letzte Woche ein viel beachtetes Fernsehinterview. Dass die Geiseln mit militärischer Gewalt befreit werden könnten, sei höchst unwahrscheinlich, sagte Eisenkot. „Es ist unmöglich, die Geiseln in naher Zukunft ohne ein Abkommen nach Hause zu bringen.“ Wer immer etwas anderes behaupte, fügte er mit deutlicher Anspielung auf Netanjahu hinzu, „versucht, der Öffentlichkeit Fantasien anzudrehen.“ Gegenüber der New York Times hatten sich mehrere hochrangige israelische Militärs vor wenigen Tagen ganz ähnlich geäußert.

Gibt es eine weitere Kampfpause?

In Netanjahus Lager sorgt das Interview für erwartbaren Unmut. Der Abgeordnete Hanoch Milwidsky von der Likudpartei des Regierungschefs nannte Eisenkots Äußerungen am Dienstag „unverantwortlich“ und forderte ihn gar zum Rücktritt aus dem Kriegskabinett auf.

Dennoch deutet derzeit vieles darauf hin, dass die öffentliche Stimmung sich zugunsten der Geiselfamilien wendet – und die Regierung darauf reagieren wird. Die linksliberale israelische Zeitung Haaretz berichtete am Mittwoch, eine Mehrheit im Kabinett befürworte eine längere Kampfpause, um die verbliebenen Geiseln zu befreien. Und selbst ein Likudminister gab unter dem Schutz der Anonymität zu: „Die Geiselfrage wird uns letztendlich zum Handeln zwingen.“