Mila, Einat, Christian und Yuly (von links) leben in Kfar Yona in Israel. Foto: privat

Christian Seybold lebt mit seiner Familie in Israel. Nach Tel Aviv sind es nur 45 Minuten mit dem Auto. Wie der gebürtige Beilsteiner das Land seit dem Angriff der Terrororganisation Hamas erlebt und warum die Familie in Israel bleiben möchte.

Christian Seybold vergleicht Israel mit einem Regenbogen. „Das Land hat alle Farben.“ Die ganz hellen, aber auch die ganz dunklen. Der gebürtige Beilsteiner liebt die menschliche Nähe, die Offenheit in seiner Wahlheimat. Aber es gibt auch schwere Zeiten und Krieg.

 

Normalerweise schickt Christian Seybold um diese Jahreszeit seinen Freunden in der alten Heimat gerne mal ein Foto von sich und seiner Familie am Strand bei 30 Grad und Sonnenschein. Denn der Strand ist dort, wo er jetzt wohnt, nur 15 Minuten entfernt. „Wir fahren öfter mal am Nachmittag hin und hängen die Füße ins Meer“, erzählt der 42-Jährige. Christian Seybold ist in Beilstein groß geworden, hat dort beim TGV gekickt und am Herzog-Christoph-Gymnasium sein Abi gemacht. Seit elf Jahren lebt er in Israel. Gemeinsam mit seiner Frau Einat und den Töchtern Yuly, sechs Jahre, und Mila, drei Jahre, wohnt er in Kfar Yona, einer kleinen Stadt zwischen Haifa und Tel Aviv. In die schillernde Metropole Tel Aviv sind es gerade mal 45 Minuten mit dem Auto – etwa so weit wie von Beilstein nach Stuttgart.

Das Homeoffice-Büro ist der Schutzraum

Das Herbst-Foto an seine Freunde in Deutschland kam diesmal nicht vom Strand, sondern aus dem Schutzraum. Den hat jedes neuere Haus in Israel. Wenn die Sirene und die Warn-App einen Raketen-Angriff ankündigen, bleiben 90 Sekunden, um den Schutzraum aufzusuchen. „Dann hört man am Himmel einen großen dumpfen Knall und dann ist es eigentlich schon vorbei“, sagt Christian Seybold.

Er und seine Frau kennen die Alarme schon von früher. 2014, 2018, 2021 . . . da lebte die Familie noch in einem Vorort von Tel Aviv, wo es öfter Raketen-Alarm gab. Die Sirene klingt wie ein Motorrad, wenn es schnell beschleunigt, sagt der Beilsteiner. Nach dem Krieg 2014 ist er lange zusammengezuckt, wenn ein Motorrad neben ihm an der Ampel beschleunigte. Heißt: Auch, wenn die Alarme ein stückweit zur Normalität gehören, sie arbeiten an den Nerven.

Im neuen Zuhause in Kfar Yona ist es ruhiger und es gibt weniger Luftalarme. Seit dem Angriff der Terrororganisation Hamas vom 7. Oktober auf Israel musste sich die Familie „nur“ einmal in Sicherheit bringen.

„Als der Alarm losging haben wir den Kindern gesagt, dass wir ein Frühstücks-Picknick in meinem Homeoffice-Büro machen.“ Das ist der Schutzraum. Dort gibt es einen Wasservorrat, Snacks und Matratzen für die Kinder. „Wir versuchen, Yuly und Mila von den Ereignissen fernzuhalten“, sagt der Familienvater. „Die Frage ,Papa, was ist Krieg?‘ kam zum Glück noch nicht.“

„Dafür ist jetzt nicht die richtige Zeit“

Der 7. Oktober hat vieles im Alltag verändert. Kindergärten und Schulen sind geschlossen, das Leben spielt sich weitgehend in den eigenen vier Wänden ab. Zum Glück gibt es bei Seybolds einen Garten und nebenan gleich einen großen Spielplatz. Unnötige Ausflüge, zum Beispiel an den nahe gelegenen Strand, gibt es nicht. „Dafür ist jetzt nicht die richtige Zeit“, sagt Christian Seybold. Er arbeitet im IT-Bereich einer Firma in einem Vorort von Tel Aviv. Die Arbeit geht weiter, Deadlines gibt es nicht mehr, wer kann, nimmt an Meetings teil.

Als unglaublichen Schock bezeichnet Christian Seybold den 7. Oktober selbst. Am Abend zuvor sind gute Freunde zu Besuch gewesen. Es war der vorletzte Tag der Sukkot-Ferien. Man aß am traditionellen Familienabend gemeinsam Shabbat-Dinner, unterhielt sich super und tanzte. Am nächsten Morgen dann die Nachricht von den Angriffen der Hamas. Die Nachricht von den Toten. Erst 100, dann 200, dann 300 . . .

Inzwischen sind es weit mehr als 1000 Tote. Keiner davon im direkten Umfeld von Christian und seiner Familie. „Aber es sind Freunde von Freunden dabei und ehemalige Arbeitskollegen. Jeder kenne jemanden. Viele sind auch vom Militär in den Reservedienst eingezogen worden.“

Es gibt Evakuierungsflüge. „Wir bekommen regelmäßig Mails, dass wir uns für eine Maschine melden können.“ Christian, Einat, Yuly und Mila könnten jeden Tag ausfliegen. „Klar ist, dass ist ein Thema für uns, aber es gibt Menschen, die die Flüge dringender brauchen“, sagt der 42-Jährige und blickt in den Norden des Landes, wo die Menschen evakuiert werden müssen. „Wir können nicht sagen, ob es nötig sein wird. Wir sind in einer vergleichsweisen komfortablen Lage.“ Die gelte es jetzt jeden Tag neu zu bewerten.

„Jetzt rutscht das Land in der Kriegssituation wieder zusammen“

Die neue Regierung, sagt Christian Seybold, habe Israel gespalten. Stichwort Justizreform. „Jetzt rutscht das Land in der Kriegssituation wieder zusammen.“ Transporte werden organisiert, Hilfsgüter. Seybolds haben zum Beispiel ihren Wohnraum zur Verfügung gestellt für Menschen, die ein paar Tage Auszeit vom Raketenalarm wollen. „Jeder macht was, keiner versteckt sich.“ Christian Seybold findet das sehr bewegend, auch wenn der Grund traurig ist. Er sagt: „Das macht auch dieses Israel aus. In all seinen Farben des Regenbogens.“ Aus deutscher Sicht, glaubt er, sei vieles in Israel nicht unbedingt zu verstehen. „Es geht nicht alles rational zu. Da macht man nicht einen runden Tisch und gut. Frieden kann nur von innen heraus kommen und von beiden Seiten.“

Christian Seybold wiederholt seinen Vergleich mit dem Regenbogen. „Alle Farben – ganz schlimme und ganz gute Sachen. In guten Jahren schicke ich ein Foto vom Strand. In schlechten Jahren ein Bild aus dem Schutzraum.“