Tania Lindner betreut für die Caritas das Projekt der Galerie Sichtbar. Im Arbeitsraum steht die ausgebildete Künstlerin vor Gemälden, auf denen häufig herausfordernde Biografien in faszinierenden Kunstwelten verarbeitet werden. Foto: /ak

Die Galerie Sichtbar zeigt Kunst von Menschen mit schwierigen Lebenswegen. An diesem Sonntag findet in den Ausstellungsräumen im Bohnenviertel erstmals ein Konzert statt.

Galerie Sichtbar heißt eine Einrichtung der Caritas, die im März 2018 am Rand des Bohnenviertels in Stuttgart eröffnet worden ist. Der Name der Galerie spielt aber nicht nur auf die Motive der Gemälde an, die in den Ausstellungsräumen entdeckt werden können. Vielmehr geht es in dem Projekt darum, die Menschen hinter den gezeigten Kunstwerken sichtbar zu machen.

„Die Künstlerinnen und Künstler, die hier ausstellen, sind Menschen mit außergewöhnlichen Lebenswegen, nicht selten wohnungslos oder auf besondere Hilfe angewiesen. Oft sind sie ,unsichtbar’ und leben am Rand der Gesellschaft“, sagt Tania Lindner. Die ausgebildete Künstlerin, die den Raum für „Outsider-Kunst“ seit seiner Eröffnung betreut, informiert jeden neugierigen Gast ausführlich über den Hintergrund des Projekts. Wer die Galerie danach verlässt, weiß: Kunst tut gut.

Neues Publikum für besondere Kunstschaffende

Tania Lindner, die zuvor sieben Jahre lang für die Caritas Kunstgruppen geleitet hat, sieht ihre Aufgabe darin, Menschen und Kunst zusammenzubringen. Dazu gehört ganz konkret die Inspiration zu praktischer künstlerischer Tätigkeit in einem Nebenraum. Dazu gehört aber auch, der Galerie immer wieder ein neues Publikum zu erschließen. Mit Lesungen zum Beispiel. Oder mit einem ungewöhnlichen Konzert, wie es an diesem Sonntag, 7. April, um 16 Uhr erstmals in der Katharinenstraße 35 stattfinden wird: Dann spielt das Jazz-Duo 11 Minutes Late eigene Stücke, darunter eine Komposition, zu der die Musikerinnen ein aktuell ausgestelltes Gemälde inspiriert hat. „Das Mädchen und die Welt“ heißt es und zeigt eine Hafenimpression, die zwischen Idylle und einem sich aufbauenden Sturm schwankt. Gemalt hat es Heiko Hoffmann, ein Bauingenieur, den vielleicht ein ähnlich turbulentes Ereignis aus der Bahn geworfen hat. Jetzt ist er einer der Klienten von sozialen Einrichtungen, die das Glück hatten, in Tania Lindners Kunstreich zu landen. „Die Menschen, die hierherkommen, sind oft gefangen in ihren Abläufen und ihrem Konsum“, sagt sie und spricht damit alle Arten von Sucht an – von Alkohol über harte Drogen bis zu Glückspielen. „Hier geht es darum, sie mit Hilfe der Kunst aus diesem Trott herauszureißen“, sagt Tania Lindner.

Bilder im Schaufenster laden zur Begegnung ein. Foto: StZN/ak

Anmalen gegen Herausforderungen des Lebens

Tim, 36 Jahre alt, weiß das zu schätzen. „Während Corona ist es für mich wichtig gewesen, mal aus dem Wohnheim rauszukommen und eine gewisse Struktur zu behalten“, sagt er. Auch nach der Pandemie kommt der Mann, der heute in einer eigenen Wohnung lebt und wieder arbeitet, einmal in der Woche in die Galerie, um Skizzen mit Farbe und Pinsel umzusetzen. Ja, das Malen sei eine Art Therapie für ihn, bestätigt Tim. „Ich drücke aus, was mir durch den Kopf geht“, sagt er über die von Comicfiguren inspirierten Protagonisten seiner Bilder, die gegen die Einsamkeit oder andere Herausforderungen kämpfen und so Innenwelten und Lebenssituationen sichtbar machen.

Das Bild „Mädchen und die Welt“ inspiriert zwei Musikerinnen beim Konzert am Sonntag. Foto: StZN/ak

Einen Verkaufspreis für diese kreative Arbeit zu benennen, sei für die Kunstamateure nicht leicht, beschreibt Tania Lindner, wie soziale Geringschätzung auf die eigene Wahrnehmung abfärbt. „Manche wollen ihre Kunst verschenken. Andere nennen eine viel zu niedrige Summe, ohne zu sehen, dass sie eine eigene Idee, ihre Zeit und ihr Können investiert haben.“ Wichtig ist für Tania Lindner, dass ihre Künstlerinnen und Künstler diesen Prozess der Wertschätzung für sich reflektieren und am besten selbst mit Interessenten verhandeln.

Als Non-Profit-Projekt finanziert sich die Galerie über Spenden. Der Erlös aus dem Verkauf der Arbeiten fließt komplett an die Künstler, die auch Auftragsarbeiten mit konkreten Motivwünschen annehmen.

„Ich freue mich, wenn etwas verkauft wird“, sagt Tim, um dann zu betonen: „Viel wichtiger ist es aber, dass die Sachen überhaupt gesehen werden.“

Info

Termin
An diesem Sonntag, 7. April, veranstaltet die Galerie Sichtbar um 16 Uhr ihr erstes Konzert; zu Gast ist das Jazz-Duo 11 Minutes Late, das eigene Kompositionen spielt. Geöffnet ist die Galerie Sichtbar im Normalbetrieb Dienstag, Mittwoch und Donnerstag von 13-17.30 Uhr.

Ort
Stolz ist Galerie-Leiterin Tania Lindner nicht nur auf das einmalige soziale Projekt der Galerie Sichtbar, sondern auch darauf, dass sie einen geschichtsträchtigen Ort bewahrt. Die Ladenräume des 1870 errichteten Gebäudes an der Ecke Pfarr-/Katharinenstraße, zuletzt von einem Antiquitätenhändler bespielt, enthalten viele originale Details. Vor dem Krieg betrieb hier das jüdische Ehepaar Eduard und Ernestine Leiter eine angesehene Metzgerei. 1939 wurde das Paar enteignet und 1942 im KZ Theresienstadt ermordet. Zwei Stolpersteine erinnern an die Deportation der Leiters.