André Jung und Fritzi Haberlandt in „I’m searching for I:N:R:I“ Foto: Thomas Aurin

Jossi Wielers Uraufführung von Fritz Katers „I’m searching for I:N:R:I (eine Kriegsfuge)“ im Stuttgarter Kammertheater zeigt eine Welt in Scherben, in der die Liebe keine Chance hat. Den problematischen Text retten exzellente Schauspieler.

Stuttgart - Maibom hängt in den Seilen wie ein angeschlagener Boxer. Kauert an der Wand, trinkt, hadert mit seinem Schicksal. Übt sich in Selbstironie, wenn er darüber redet, dass die Nutten ihn gern als Kunden haben, weil er wegen seines Holzbeins nicht weglaufen und die Zeche prellen kann. Ein geschwätziger, romantischer Kerl, verliebt in das Bild eines Weltmanns, der am großen Rad der Geschichte dreht, als Journalist in Süd- und Mittelamerika Nazis jagt und für den israelischen Geheimdienst spioniert.

So lustvoll André Jung Klischees bedient, strahlt sein Maibom doch Stärke aus. Er ist dem Wahnsinn der NS-Zeit entkommen. Einer, der weiß, dass er anders ist als die anderen, der aber keine Angst vorm Leben hat, auch wenn er am Ende vielleicht nicht mehr sein wird als ein bitterer, auf den Hund gekommener alter Kauz mit Holzbein.

Fritz Kater ist das Pseudonym für Stuttgarts Schauspielintendant Armin Petras

André Jung hat schon mit dem Regisseur Armin Petras gearbeitet (in der Ibsen-Inszenierung „John Gabriel Borgman“ in München), jetzt spielt er erstmals in einem Stück von Petras’ schreibendem anderen Ego Fritz Kater. Petras’ Intendantenkollege Jossi Wieler, mit dem Jung seit Jahrzehnten arbeitet und der nach sechs Jahren Theaterabstinenz erstmals wieder Schauspiel inszeniert, brachte das Werk am Freitag im Stuttgarter Kammertheater zur Uraufführung.

Jung spielt traumwandlerisch gelassen. Er führt Eitelkeit vor, zugleich lässt er in verlorenen Blicken, in kurzem Schweigen seinen Schmerz anklingen und seine Trauer über ein aus den Fugen geratenes Leben.

„I’m searching for I:N:R:I“ heißt das Stück, und „Eine Kriegsfuge“ im Untertitel – nach dem Erlöser sucht dieser Maibom aber nicht wirklich, denn den Glauben hat er durch die Gräuel des Krieges verloren. Die Folgen des Krieges haben ihn gezeichnet, abgestumpft. Das Holzbein ist dabei die harmloseste Verwundung.

Klug konzipierte Bühne von Anja Rabes

Zerstört, verzweifelt, Täter und Opfer sind auch die anderen Figuren. Fritzi Haberlandt, schlotternd, nervös zuckend, erzählt als Rieke von ihren frühen Teenagerzeiten im Krieg. Ihre schmalen Arme flattern wie die des Vogels, den sie in die Freiheit entlassen hat, wenn sie von sexueller Nötigung, von falsch verstandener Liebe, von Verlassenwerden spricht, von einem gebrochenen Herzen. Ein Mädchen, das, um ihre Jugend betrogen, nie erwachsen werden konnte.

Tapferkeit vortäuschend stakst Haberlandt über Anja Rabes’ klug konzipierte Bühne – zerbrochene Gipsplatten, die disharmonisch knarzen, wenn man sie betritt. Eine brüchige Eislandschaft, abgeschaut bei Caspar David Friedrichs „Eismeer“, was schon deshalb sinnig ist, da das Bild auch als „Die gescheiterte Hoffnung“ bezeichnet wurde und die Aussage des Stücks auf den Punkt bringt. Es ist aber auch ganz wörtlich eine aus den Fugen geratene Welt, von der Kater erzählt. Ein Trümmerreich. Die monologreiche Geschichte spielt von 1941 bis 1989, in West und Ost, zergliedert in Fragmente mit häufigen Orts- und Zeitwechseln.

Das Drama der Liebe wird überschattet vom monumentalen Orpheus-Mythos

Stuttgarts Opernchef und Regisseur Jossi Wieler, der durch seine Elfriede-Jelinek-Inszenierungen jede Menge Erfahrung mit Textflächen hat, deutet mit Lichtwechseln Räume und Zeiten an, lässt die Schauspieler übers Reden ins Spielen kommen und verstärkt den bitter-resignativen Ton des Textes. Hier staksen lauter Solitäre über die Bühne. Harmonie, heile Welt gibt es nur in der Fiktion, auf der Leinwand. Wieler zeigt folgerichtig nur Videobilder von gemütlicher Nachkriegsbiederkeit im Wohnzimmer, in dem Maibom und Rieke knutschen. Wenn sich Rieke und Maibom auf der Splitterfläche begegnen, scheint eine unsichtbare Wand zwischen ihnen zu liegen, eine unüberwindliche Distanz, da kann sich Rieke Maibom noch so beherzt in die Arme werfen.

Kater glaubt nicht an die Liebe in Zeiten des ewigen, mehr oder weniger kalten Krieges. Schon klar. Aber warum überlädt er das Werk dann mit der überwältigenden Liebe von Orpheus und Eurydike? Der Sänger, der seine geliebte Frau aus dem Totenreich führen will, scheitert. Doch da in Fritz Katers Stück die Liebe nur behauptet, nie glaubhaft dargestellt wird, kann sie letztlich auch nicht scheitern – nicht einmal das. Diese Schwäche im Text kann auch die Regie nicht kompensieren. So lässt es einen kalt, wenn Maibom und Rieke ebenso wie Orpheus und Eurydike nicht zusammenbleiben können. Der Text der mythologischen Geschichte läuft als Projektion über die Bühne hinweg: Der Mythos ist stärker als das Drama.

Ein großer Abend der Schauspieler

Der Abend funktioniert nur dann, wenn jeder seine Eisscholle selbst bespielt, um sein eigenes Scheitern kreist. Auch Matti Krause gelingt ein schönes Solo, wenn er aus der DDR flieht und damit klarkommen muss, dass er andere in ihrem Unglück zurückgelassen hat. Fahrig, nervös mit dem Bein zuckend, schmiedet er Zukunftspläne, doch sein zerquälter Gesichtsausdruck spricht eine andere Sprache.

Diese Studien sind Schauspielerpreziosen. Eine dialogische Szene bleibt immerhin haften, wenn Jossi Wieler die Regieanweisung „B-Movie“ ernst nimmt und daran erinnert, dass auch der Film „Fahrstuhl zum Schafott“ eine Orpheus-und-Eurydike-Variante ist. Begleitet von Miles-Davis-Klängen gibt André Jungs Maibom den übereifrigen Detektiv, sucht nach der verschwundenen Rieke und trifft im Keller einer Villa in Bonn auf blondes Gift: Milena. Manja Kuhl auf Stilettos, im Bleistiftrock, spielt eine Frau, die ihn über Riekes Arbeit für die Nazis und ihren Verrat aufklärt, unter dem sie selbst ungeheuer gelitten hat. Zwischen den beiden lässig und witzig spielenden Schauspielern entwickeln sich großartige Szenen, hier funkelt der Abend tragisch und komisch. Momente, die bei aller Ironie zeigen: Es geht, wenn man den Figuren den Raum und den Text dazu gibt – mit den übergroßen alten, doch scheinbar obsoleten Erzählungen kann das profane Gegenwartsleben in seiner Tragik absolut mithalten.

Nochmals 15.–18., 21.–23. März, 1., 6., 7. April. Karten: 07 11 / 20 20 90