Ein junger Asylbewerber im Unterricht – Wirtschaft will Potenziale besser nutzen Foto: dpa

Jeden Monat strömen Tausende neue Flüchtlinge nach Deutschland. Dort harren sie in überfüllten Aufnahmestellen aus. Die Wirtschaft will nicht tatenlos zusehen.

Stuttgart - Wenn Peter Kulitz über die Situation der Flüchtlinge in Baden-Württemberg nachdenkt, macht ihn das betroffen: „Es darf nicht sein, dass die Menschen zu Tausenden in den Aufnahmestellen zusammengepfercht werden“, sagte der Präsident des Baden-Württembergischen Industrie und Handelskammertags (BWIHK). „Unter den Flüchtlingen sind talentierte junge Menschen, deren Potenziale wir einfach ungenutzt lassen.“ Gerade die Menschen aus Syrien verfügten häufig über eine vergleichsweise gute schulische Bildung. Der BWIHK erwartet von der Politik, die duale Ausbildung in Baden-Württemberg für Flüchtlinge zu öffnen.

Auch der baden-württembergische Maschinenbau begrüßt den Vorstoß. „Grundsätzlich finde ich die Position richtig“, sagte Dietrich Birk, Geschäftsführer des Branchenverbands VDMA in Baden-Württemberg, unserer Zeitung. Ziel müsse sein, die Flüchtlinge möglichst schnell zu integrieren. „Wir können nicht einfach tatenlos auf einen Tag X warten, bis die Flüchtlinge das Land wieder verlassen“, sagte Birk.

Nach Altersgruppen differenziert, gab es im Jahr 2013 deutschlandweit allein in der Gruppe der Asylbewerber zwischen 16 und 35 Jahren rund 55 000 Menschen. „Viele von ihnen kämen prinzipiell für eine Ausbildung infrage“, so Kulitz. Dieses Potenzial werde durch die anhaltenden Flüchtlingsströme erheblich steigen und sollte angesichts der vielen unbesetzten Ausbildungsplätze dringend erschlossen werden.

Die Wirtschaft klagt seit Jahren darüber, dass sich immer weniger junge Menschen für eine Lehre interessieren. „Infolge des demografischen Wandels und des Trends zu höheren Schulabschlüssen und Studium wollen immer weniger Schulabgänger eine duale Ausbildung aufnehmen“, sagte Andreas Richter, Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer (IHK) Region Stuttgart. „Diese Entwicklung hat sich in den letzten Jahren manifestiert: Wurden im Jahr 2011 noch fast 47 700 Lehrverträge in Baden-Württemberg abgeschlossen, waren es im letzten Jahr nur noch circa 45 200.“ Auch aktuell liege die Zahl der neu eingestellten Azubis im Land mit 43 900 ein Prozentpunkt unter dem Wert des Vorjahrs. Die IHKs rechnen damit, dass in Baden-Württemberg rund 6000 Lehrstellen in diesem Jahr unbesetzt bleiben könnten. Der Mangel an Bewerbern stelle viele Firmen heute schon vor Probleme, so Richter. „Hält der Trend an, wird sich damit auch die Fachkräftesituation in den Unternehmen für die Zukunft zusätzlich verschärfen.“ Fehlende Auszubildende von heute seien fehlende Fachkräfte von morgen.

Das Aufenthaltsrecht sowie die Erlaubnis zu arbeiten beziehungsweise Berufsausbildungen zu absolvieren wird in Deutschland auf Bundesebene geregelt. Dietrich Birk forderte die Landesregierung daher auf, wegen der Öffnung der dualen Ausbildung für Flüchtlinge beim Bund vorstellig zu werden. „Der VDMA würde es begrüßen, wenn die baden-württembergische Landesregierung beim Bund mit einer Bundesratsinitiative vorstellig würde, um jungen Flüchtlingen den Weg in die duale Ausbildung zu ebnen.“ Voraussetzung sei allerdings, dass die Menschen über Sprachkenntnisse verfügen und im Falle von Traumatisierungen eine besondere Begleitung erfahren. „Das kann natürlich nicht die Aufgabe der Wirtschaft sein.“

In diese Kerbe schlägt auch der baden-württembergische Handelsverband (HDE): „Die Anregung, Menschen aus Flüchtlingsländern für die Ausbildung zu gewinnen, ist gut und wichtig“, sagte Sabine Hagmann, Hauptgeschäftsführerin des HDE im Land. „Die Menschen müssen integriert werden. Die entsprechenden Sprachkenntnisse sind für uns aber Voraussetzung.“

Unterstützung erhält der BWIHK auch vom Arbeitgeberverband Südwestmetall: Angesichts des schrumpfenden Angebots an Fachkräften sei es sinnvoll, auch über solche Potenziale nachzudenken und Flüchtlingen und Asylbewerbern mit ausreichenden Sprachkenntnissen zumindest den Weg zu einer Ausbildung zu ermöglichen, sagte Stefan Wolf, Vorsitzender von Südwestmetall, unserer Zeitung. „Dies würde auch die Chancen auf berufliche Integration erheblich steigern, falls anschließend Asyl gewährt oder ein Bleiberecht erteilt wird.“

Nils Schmid (SPD), Wirtschaftsminister in Baden-Württemberg, begrüßte die positiven Rückmeldungen aus der Wirtschaft, jungen Flüchtlingen eine Ausbildungsperspektive in Deutschland ermöglichen zu wollen. „Es lohnt sich, dass Wirtschaft und Politik gemeinsam prüfen, wie man das angehen kann.“ Einen ersten Schritt hat die Politik bereits mit der Absenkung des Arbeitsverbots für Flüchtlinge auf drei Monate getan.