Florian Höllerer bei der Veranstaltung zehn Jahre Literaturhaus. Foto: Kai Loges

Florian Höllerer (45) ist im Literaturhaus Stuttgart immer und überall zugleich. Vor allem ist er ein wunderbarer Gastgeber, der mit der Kunst der Zurückhaltung und ehrlichem Interesse eine Bühne geschaffen hat, die vor Ort ebenso begeistert wie international.

Florian Höllerer (45) ist im Literaturhaus Stuttgart immer und überall zugleich. Vor allem ist er ein wunderbarer Gastgeber, der mit der Kunst der Zurückhaltung und ehrlichem Interesse eine Bühne geschaffen hat, die vor Ort ebenso begeistert wie international.
Stuttgart - Herr Höllerer, in der Gründungsphase des Literaturhauses gab es viel Zweifel, ob das Projekt gelingen könnte. Sie kamen, sahen – und überzeugten. Haben Sie mit solch einem Erfolg gerechnet?
Literaturhäuser waren schon damals aus der Kultur von Großstädten nicht wegzudenken, fast so selbstverständlich wie Kinos, Theater oder Museen. Wie tief allerdings gerade in Stuttgart das Interesse an Literatur verwurzelt ist, überhaupt am Lesen, Zuhören und Diskutieren, wurde mir schnell deutlich, als aus unserem kleinen Verein eine veritable Bürgerbewegung wurde. Heute sind wir in unserem bundesdeutschen Literaturhäuser-Netzwerk das mitgliederstärkste Haus. Für diesen Rückenwind war ich von Anfang an sehr dankbar.
Sie haben von Beginn an sehr stark auf Vernetzung gesetzt. Wie wichtig sind diese Verbindungen innerhalb einer Stadt tatsächlich? Es gibt doch auch die Gefahr einer Scheindiskussion.
Viele unserer Kontakte stammen aus der Zeit vor der Eröffnung, als das Literaturhaus bereits in vielen Einrichtungen mit Programm zu Gast war. Überhaupt aber herrscht in Stuttgarts Kulturlandschaft ein Klima der Kooperation. Man ist sich im Klaren darüber, dass eine gelungene Veranstaltung, egal wer sie macht, ein Gewinn für alle Einrichtungen ist. Für misslungene Abende gilt das Umgekehrte: Gemeinsamer Konkurrent ist das heimische Fernsehsofa. Manchmal herrscht die Vorstellung, es gebe eine vorgegebene Menge an Publikum, Geld, Aufmerksamkeit. Und je mehr sich um den Kuchen bemühten, desto so kleiner würden die Stücke. Das stimmt meines Erachtens so nicht. Der Kuchen wird größer, und gerade was die Literatur betrifft, ist da noch viel Potenzial.
Das Literaturhaus hat eine Vielzahl von Aufgaben übernommen – von der Dokumentation über Leseabende bis hin zu Projekten mit Kindern und Jugendlichen. Ist für all dies das Raumangebot noch zeitgemäß?
Das eindrucksvollste Literaturhaus, das ich kenne, steht in Oslo. Es hatte sich die deutschsprachigen Häuser zum Vorbild genommen, war aber noch einige Schritte vorangegangen. Der Besuch in Oslo war der Funke, um vor unseren Feiern des zehnjährigen Bestehens zu sagen: Wir müssen die ohnehin notwendigen Renovierungsmaßnahmen nutzen, das Haus weiterzudenken. Und wir waren glücklich, als sowohl unser Freundeskreis als auch der Gemeinderat in einem fraktionsübergreifenden Beschluss Gelder für Umbauten zur Verfügung gestellt hatten.
Und?
Nur wegen unseres Rechtsstreites mit dem Dreiländerfonds um den vertraglich vereinbarten Kauf kam es zu einer Zwangspause dieser Pläne. Grundsätzlich ist das Haus aber unser unbedingter Wunschstandort. Deshalb war die Freude so groß, als wir den Prozess in erster Instanz gewannen. Nun warten wir – guten Muts – das Berufungsverfahren ab.
Das digitale Buch ist ja nach wie vor auf dem Vormarsch: Wie muss sich ein Literaturhaus darauf einstellen? Zugleich scheint es ja so, dass das Erleben der Autorinnen und Autoren immer wichtiger wird.
Die Literatur reagiert auf die Neuen Medien, ein Literaturhaus natürlich ebenso: Seit Jahren veranstalten wir zum Beispiel das von Johannes Auer kuratierte Festival „Literatur und Strom“ zur digitalen Literatur. Nächsten April wird das „Hacken“ als Kunst des Umschreibens und sein Einfluss auf die Literatur Thema sein. Aber Sie haben natürlich recht: Im Mittelpunkt unserer Arbeit steht die Person des Autors – und der Wunsch des Publikums, ihm persönlich zu begegnen, besteht unabhängig davon, in welcher Form er veröffentlicht.
Sie wechseln ja nun nach Berlin: Was hat Berlin, was Stuttgart nicht hat und umgekehrt?
Im Vordergrund steht für mich, wie meine Tätigkeit in Berlin sich von dem, was ich hier 13 Jahre gemacht habe, unterscheidet. Gezwungen zu sein, in etwas andere Richtungen zu denken – das ist wichtig nicht nur für mich, sondern auch für das Stuttgarter Haus. Das Literarische Colloquium Berlin bewegt sich stärker als ein Literaturhaus im Bereich der Autorenförderung und ist, ähnlich der Akademie Schloss Solitude, auch ein Stipendiatenhaus. Es betreibt die zwei Internetportale Literaturport.de und Lesungen.net und engagiert sich überdies im Bereich der Literaturvermittlung im Ausland.
Rein geografisch rücken Sie in Berlin an die Peripherie.
Das stimmt, aber natürlich habe ich wie in Stuttgart auch mit dem abendlichen Literaturprogramm zu tun, das im Sommer auch im Garten am Wannsee stattfindet. Die zentrale Lage aber lasse ich tatsächlich hinter mir, die Gespräche in unserer Buchhandlung, auch das Restaurant, in dem sich abends Literaturhaus- und Liederhallen-Publikum austauschen. An Dingen, die ich vermissen werde, mangelt es nicht, ganz zu schweigen von den Personen: die Mitarbeiter, der Verein, das Publikum, die Partner . . .
In Berlin übernehmen Sie eine Einrichtung mit großer Tradition. Fühlen Sie da eine besondere Verpflichtung auch durch die Gründung durch Ihren Vater? Arbeitet es sich da leichter, oder ist da der Reformdruck größer? Mit welchen Stuttgarter Erfahrungen können Sie da punkten?
Das ist schon eine Umstellung. Hier das neu gegründete Haus, in das ich hineingewachsen bin und von dem ich mich auch nur schweren Herzens trenne. Dort 50 Jahre geballte und von meinem Vater ins Leben gerufene Tradition. Andererseits ist es auch schön, etwas abzuschließen – und dieses Abgeschlossene zum Grundstock von etwas Neuem machen zu dürfen.
Wird es weiter Verbindungen geben?
Dass mich meine Stuttgarter Erfahrungen weiter begleiten, ist jedenfalls ein beruhigendes Gefühl. Ich hoffe auch, dass viele Brücken und Partnerschaften von Berlin aus weiter bestehen werden.
Zum Beispiel?
Zu nennen sind die Akademie Schloss Solitude, die Kunststiftung Baden-Württemberg, das Marbacher Literaturarchiv und natürlich auch das Literaturhaus selbst. Die Robert-Bosch-Stiftung, die ja auch für uns hier ganz wichtig ist, und das Literarische Colloquium sind schon heute über mehrere Programme verbunden. An der Stuttgarter Universität werde ich auch weiter Seminare geben und schon deshalb regelmäßig in Stuttgart sein.
Nehmen Sie etwas mit?
In Berlin beginne ich am 15. Januar gleich mit einer Stuttgarter Produktion: unserer diesjährigen Ausstellung über den französischen Comickünstler Jacques Tardi.
Das Verkehrs- und Städtebauprojekt Stuttgart 21 hat in den vergangenen drei Jahren vor allem auch die Kulturszene thematisch dominiert. Wie haben Sie dies erlebt?
Das Literaturhaus habe ich mir immer auch als einen Ort der Debatte vorgestellt, und von meinen ersten Tagen an hat das Thema Stuttgart 21 uns natürlich begleitet. Sei es durch Streitgespräche, sei es durch Bücher von Heinrich Steinfest oder Wolfgang Schorlau. Auch durch Roland Ostertags Architekturreihe oder auch nur durch kleinere Aktionen wie das Ausstellen der Juchtenkäferkarte aus Ernst Jüngers Käfersammlung.
Hat das Projekt aus Ihrer Sicht die Wahrnehmung Stuttgarts verändert?
Was wir merken, ist, dass in der Welt, speziell in Amerika, der Ruf als Revolutionsstadt Stuttgart attraktiver gemacht hat. Neulich erst richtete Jeffrey Eugenides seinem Verlag aus, es sei ihm nicht so wichtig, wo in Deutschland er lese, unbedingt aber in Stuttgart. Und doch ein kleines Beispiel für konkrete Beeinträchtigungen: Als ich die 85-jährige Juliette Gréco zu ihrem Abteil brachte, wurden wir unter dem jetzigen Scheindach von einem so heftigen Regenguss überrascht, dass Grécos mädchenhafter Charme doch auf eine harte Probe gestellt wurde.
Bei so viel Erfolg – gab es denn auch Projekte, um die sich vergeblich bemüht haben?
Am meisten bedauere ich, dass wir Friedrich Kittlers „Liebes-Reihe“ nicht abschließen konnten. Nach „Liebe griechisch“, „Minne“ und „Liebe romantisch“ haben wir uns zu lange Zeit gelassen. Den Abend über den Monte Verità musste Kittler, schon todkrank, kurzfristig absagen. Öfter habe ich mich schon gefragt, wie er ausgesehen hätte und was ihm nachgefolgt wäre.
Welches Vorhaben Ihrer Stuttgarter Zeit hat Sie mit dem meisten Stolz erfüllt?
Besonders gerne erinnere ich mich an unsere Reihe „J’accuse . . .!“. Wir wollten den französischen „Beruf“ des Intellektuellen vorstellen. Anstatt dass André Glucksmann, Hélène Cixous oder Aminata Traoré aber ihre neuen Bücher präsentierten, schrieben sie einen Originalbeitrag: Sie wendeten Zolas legendären Anklagebrief auf die Gegenwart. Autoren wie Juli Zeh, Sibylle Lewitscharoff oder Hans Pleschinski setzten aus deutscher Perspektive Antworten dagegen. Da gelang es dem Haus gut, seine Stärken auszuspielen: eigenwillige Begegnungen und die Möglichkeit, sich einem Thema über mehrere Monate von ganz unterschiedlichen Richtungen zu nähern. Und so etwas geht nur mit starken Kooperationspartnern, in diesem Fall die Bosch-Stiftung und das Institut français. Dass Letzteres nun unser Nachbar gegenüber ist, fügt sich gut und stärkt den Standort Berliner Platz.