Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) richtet einen Beirat für von Missbrauch Betroffene ein. Sie will mehr aufklären und die Hilfen verstärken. Den Betroffenen reicht das nicht.
Dresden - Am Ende ihrer mehr als halbstündigen Rede liest Kerstin Claus den EKD-Synodalen doch noch die Leviten. Die Frau, die in den 80er Jahren als Jugendliche von einem bayerischen Pfarrer missbraucht worden ist, führt den in Dresden versammelten Kirchenparlamentariern die Sichtweise, die Gefühle und die Verletzungen der Betroffenen vor Augen. Sie lobt lange die kirchlichen Anstrengungen der jüngsten Zeit, und es scheint, als sehe sie die EKD endlich auf dem richtigen Weg. Doch dann rechnet Claus mit der Kirche ab. Vor einem Jahr habe der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm die Parole „Null Toleranz für Täter und Mitwisser“ ausgegeben. Doch noch immer werde diese Vorgabe nicht konsequent umgesetzt.
Täter dürften nicht weiter in der Verkündigung eingesetzt werden. Gemeinden müssten von Tätern erfahren. Und die Kirche solle bei gemeldeten Fällen aktiv nach weiteren Betroffenen recherchieren, fordert Claus. Dabei spricht sie offenbar eigene Erfahrungen und nicht unbedingt aktuelle Versäumnisse an. Denn tatsächlich ist der Theologe, der sich an ihr verging, immer noch im Dienst der bayerischen Landeskirche. Die habe zwar mittlerweile Fehler im disziplinarrechtlichen Verfahren eingeräumt, aber Folgen habe dieses Eingeständnis nicht gehabt. „Keine Toleranz für Täter und Mitwisser. Handeln Sie zukünftig nach der Devise“, mahnt Claus.
Entschädigung im Rechtssinne soll es nicht geben
Doch auch die neuen Beschlüsse der evangelische Kirche zu dem Thema gehen ihr noch nicht weit genug. Sie kritisiert es zum Beispiel als zynisch, dass es keine Entschädigung im Rechtssinne geben solle. Die bisherigen Hilfeleistungen würden nämlich nicht in den Blick nehmen, was für die Opfer alles verloren sei: „Versäumte Ausbildungswege, belastete Beziehungen und psychische Probleme, zum Teil ein Leben lang.“ Zuvor hatte der bayerische Kirchenjurist Nikolaus Blum deutlich gemacht, dass die EKD womöglich einen anderen Weg gehen will als die katholische Deutsche Bischofskonferenz. Dort wird über Entschädigungen bis zu 400 000 Euro pro Fall diskutiert. Zahlungen in solchen Größenordnungen führten zwangsläufig zu Verfahren, in denen es um die Beweisbarkeit von Taten gehe, die verjährt seien. Das würde Betroffene lange belasten und retraumatisieren, so Blum.
Die Kirche setze daher weiter auf individuelle Lösungen ohne eine strenge Nachweispflicht. Das bisherige System solle ausgebaut werden. Dass es bereits Wirkungen entfallt, zeigen etwa die Erfahrungen der württembergischen Landeskirche. Während der vergangenen vier Jahre wurden hier in 143 Fällen pauschal 5000 Euro zur „Anerkennung des Leids“ gezahlt. Darüber hinaus wurden Therapiekosten übernommen und weitere Hilfen gewährt.
770 Missbrauchsfälle wurden den Protestanten bundesweit gemeldet
Bundesweit sind den Protestanten inzwischen 770 Fälle gemeldet. Diese Zahl ist deutlich geringer als im katholischen Bereich, zumal auch sexuelle Gewalt zwischen Erwachsenen erfasst ist. Rund 60 Prozent der Taten ereigneten sich im Bereich der Diakonie, also zum Beispiel in Kinderheimen. Über zusätzliche Maßnahmen, Aufklärung und Prävention zu stärken, berichteten Blum und die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs. Die EKD-Synode hatte im vergangenen Jahr, einen Elf-Punkte-Plan beschlossen. Als Konsequenz wird nun ein zwölfköpfiger Betroffenenbeirat eingerichtet, mit dem weitere Schritte abgestimmt werden. Die EKD hofft, dass dieser Beirat zur Keimzelle eines Netzwerkes wird. Ein Problem vieler Betroffener im evangelischen Bereich sei ihre Vereinzelung, betonte Fehrs.
Zudem schreibt eine neue Gewaltschutzrichtlinie unter anderem vor, dass Mitarbeiter alle begründeten Verdachtsfälle melden müssen und überall gleiche Standards für die Vorbeugung gelten. Sie regelt auch, dass jegliches sexuelle Verhalten gegenüber Kindern Gewalt ist. Damit geht sie über die strafrechtliche Bestimmung hinaus. Außerdem untersagt sie sexuelle Kontakte in Seelsorgebeziehungen.
Für Maßnahmen stellt die EKD nächstes Jahr 1,3 Millionen Euro in den Etat ein. Eine weitere Million soll noch dazu kommen. Unter anderem wird eine Aufarbeitungsstudie finanziert, die mittlerweile ausgeschrieben ist. Daneben sollen die Landeskirchen regionale Forschungsprojekte starten.