Die Metallarbeiter aus Tarent fürchten um ihre Existenz. Bei einem Protestmarsch im Oktober in Rom fordert dieser Mitarbeiter ein spezielles Gesetz für die Beschäftigten des Stahlwerks. Foto: imago//Marcello Valeri

Seit Monaten kann Europas größtes Stahlwerk in Italien seine Rechnungen nicht mehr bezahlen. Doch Mehrheitseigner Arcelor-Mittal will kein Geld zuschießen. Nun muss wohl der italienische Staat die Mehrheit übernehmen.

Europas größtes Stahlwerk im apulischen Tarent (Taranto) ist in Italien das Symbol für Verluste in Milliardenhöhe und Tausende von Krebserkrankungen. Doch das Drama um die Acciaerie d’Italia (AdI), zu denen auch Standorte in Genua und in Piemont gehören, geht weiter: Da sich Großaktionär Arcelor-Mittal, der 62 Prozent der Anteile hält, weigert, Geld zuzuschießen, droht kurzfristig ein Produktionsstopp. Das aber will der italienische Staat, der die restlichen 38 Prozent kontrolliert, nicht zulassen. Es droht eine Re-Verstaatlichung – mit weiteren Milliardenkosten für die Steuerzahler.

Im Stahlwerk sind mehr als 10 000 Mitarbeiter beschäftigt

Seit vielen Monaten verhandelt die Regierung mit dem indisch-französischen Stahlkonzern über dringend benötigte Mittel. Erhalten die Acciaerie d’Italia nicht kurzfristig mindestens 320 Millionen Euro, droht ein Produktionsstopp bei dem Unternehmen, das mehr als 10 000 Mitarbeiter beschäftigt.

Die Lage ist derart dramatisch, dass das Stahlwerk seit Monaten seine Energierechnung und seine Lieferanten nicht bezahlen kann; auch Bankenkredite erhält das Unternehmen nicht mehr. Doch auf den zwei jüngst einberufenen Hauptversammlungen erzielten die beiden Anteilseigner keine Einigung. Arcelor-Mittal will nicht zahlen.

Bei der letzten Investitionsrunde vor einem Jahr übernahm Rom 680 Millionen Euro , der private Mehrheitsaktionär gerade einmal 70 Millionen Euro. Arcelor-Mittal hat vorgeschlagen, dass der Staat zumindest einen Teil seiner Investition in eine Kapitalerhöhung umwandelt und damit die Mehrheit übernimmt.

Die ganze Region lebt vom Stahlwerk

Ursprünglich war vorgesehen, dass der italienische Staat 2024 die Mehrheit erwirbt. Das aber will Rom zumindest vorerst vermeiden. Denn dann müsste die Regierung auch die zusätzlich geplanten Investitionen für eine Umwandlung der Produktion des mit etwa 2,5 Milliarden Euro verschuldeten Unternehmens in eine „grüne“ Produktion übernehmen. Das aber kostet in den nächsten Jahren weitere 4,6 bis fünf Milliarden Euro. Nach den derzeitigen Plänen sollen die beiden Anteilseigner jeweils etwa die Hälfte davon tragen. Der staatliche Teil soll überwiegend aus europäischen Mitteln wie dem Europäischen Wiederaufbauprogramm und dem Re-Power-Programm stammen. Arcelor-Mittal müsste dann die restliche Summe tragen. Dazu aber lässt es keine Bereitschaft erkennen.

Die Situation ist verfahren. Das frühere Ilva-Stahlwerk ist ein Milliardengrab, das den Steuerzahler in seiner knapp 60-jährigen Geschichte Unsummen gekostet hat und das mehrfach verstaatlicht und privatisiert worden ist. Doch die Regierung will den Riesenstandort wegen seiner beschäftigungspolitischen Bedeutung für den Süden nicht fallen lassen. Denn davon leben nicht nur die 10 000 Beschäftigten, von denen mehrere Tausend seit vielen Jahren vom Staat Kurzarbeitergeld kassieren, sondern auch deren Familien und viele Lieferanten sowie viele Dienstleister in der Region.

Nach Ansicht von Carlo Bonomi, Chef des italienischen Industrieverbands Confindustria, ist das Stahlwerk außerdem ein „strategisches Asset“, von dessen Lieferungen viele Industriezweige abhängig seien. Angesichts der Weigerung von Arcelor-Mittal, weitere Mittel zuzuschießen, gibt es für Rom eigentlich keine Alternative zu einer Verstaatlichung. Die Gewerkschaften plädieren seit langer Zeit dafür.

Die Situation ist verfahren

Dass ein neues Aktionärstreffen am 6. Dezember eine Lösung bringt, ist höchst unwahrscheinlich. Auch die Regierung ist uneins, wie zu verfahren ist. Die Produktion von drei Millionen Tonnen statt der geplanten vier Millionen Tonnen ist weit von den eigentlich angepeilten sechs Millionen Tonnen entfernt und auf dem niedrigsten Stand seit elf Jahren. Und Franco Bernabè, Präsident der Acciaerie d’Italia, hat seinen Posten zur Verfügung gestellt, bleibt jedoch auf Wunsch der Regierung vorerst im Amt.

Einstweilen produziert die mitten in der 200 000-Einwohner-Stadt Tarent gelegene Fabrik weiter – und verschmutzt die Umwelt. Zwar sind inzwischen Filter eingebaut worden. Doch der Ausstoß von krebserregenden Benzolen ist nach wie vor sehr hoch. Tausende Krebserkrankungen und Hunderte von Toten gehen erwiesenermaßen auf die Verschmutzung durch das Stahlwerk zurück. Die Fabrik wurde deshalb vor zehn Jahren von der italienischen Justiz beschlagnahmt und zeitweise staatlichen Kommissaren unterstellt. Geändert hat sich wenig. Arcelor-Mittal hat den Standort nur geleast und konsolidiert ihn nicht in der Bilanz.

Dreckschleuder von Tarent

Emissionen
Noch raucht der Kamin in Europas größtem Stahlwerk im süditalienischen Tarent – und das, obwohl die Oberhäupter der früheren Eignerfamilie Riva, Spitzenmanager und der frühere Regionalpräsident Nichi Vendola 2021 zu langen Gefängnisstrafen verurteilt worden sind. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass das Stahlwerk für toxische Emissionen, eine Vielzahl- von Atemwegs- und Krebserkrankungen sowie Todesfälle verantwortlich ist.

Industrie
Italiens Regierungen siedelten in der Nachkriegsregion rund um die Stadt Petro-, Zement- und Stahlindustrie an. Das Stahlwerk ist seit 1965 in Betrieb.