Die musikalische Rauminstallation „Ma Un Ma“ von Johannes S. Sistermanns ist vor allem hübsch anzuschauen.Die musikalische Rauminstallation „Ma Un Ma“ von Johannes S. Sistermanns ist vor allem hübsch anzuschauen Foto: dpa

Neue Musik ist keine Kampfzone mehr. In Donaueschingen belegten am Freitag und Samstag Komponisten wie Interpreten verstärkt, dass es bei zeitgenössischen Klängen keine Tabuzonen und kein Unerhörtes mehr gibt. Aus den wilden Experimenten von einst sind unterhaltsame Spielereien geworden.

Stuttgart - Vom Besuch dieser Installation wird all jenen abgeraten, die unter Ligyrophobie, Achluophobie oder Homichlophobie leiden. Alle anderen, also alle Besucher, die sich weder vor lauten Knallgeräuschen noch vor Dunkelheit oder vor Nebel fürchten, erhalten nach Anmeldung eine Privataudienz in Yutaka Makinos schalldichter Kabine. Ganz alleine dürfen sie dort auf einem Stuhl sitzen, der zum Wummern von Bässen vibriert, dürfen eine Brille aufsetzen, die in immer rascherem Wechsel unterschiedliche Farben vor den Augen vorbeihuschen lässt, dürfen sich von Kopfhörern elektronische Töne in die Ohren jagen lassen. Wahrnehmungsgewohnheiten sollen durch „The Program“ gestört werden: Das liest man im Programmheft. Tatsächlich wird man einfach nur gut unterhalten, bemerkt die Trägheit der Augen, den Rhythmus von Farben und Klängen, lässt sich vom Sessel die Faszien massieren. Störend ist nur die junge Dame, die einen nach nur zehn Minuten aus bunten Träumen zurück ins Leben befördert.

Das alles ist nicht spektakulär, wirft aber ein Schlaglicht auf Befindlichkeiten der zeitgenössischen Musik, die in den letzten Jahren bei den Donaueschinger Musiktagen immer stärker in den Vordergrund getreten und im zweiten Jahr unter Björn Gottsteins Festivalleitung nicht mehr zu übersehen sind. Der Trend auch dieser Szene geht zu immer stärkerer Ausdifferenzierung. Eine einzige Avantgarde, eine einzige Entwicklungsrichtung gibt es nicht mehr. Die Speerspitze ist weg, mit ihr schwand der Stachel.

Wo früher akustisch-ästhetische Grenzüberschreitungen und Provokationen für Tumulte im Saal sorgten, geht es heute freundlich zu. Manchmal kommt einem die Neue Musik vor wie eine vormalige Oppositionspartei, die, nachdem sie sich Regierungsverantwortung erkämpft hat, plötzlich pragmatisch zu denken, diplomatisch zu agieren und historisch zu argumentieren beginnt. Glatt wirkt oft das Ergebnis, zuweilen gar ein wenig biedermeierlich. Man versteht Björn Gottstein gut, wenn er das große, empathische N der Neuen Musik lieber durch ein kleines n ersetzen würde. Auch er ist Realist, und womöglich hat er deshalb auch den neokonservativen Philosophen Roger Scruton zu einer Lesung eingeladen, auf dass dieser den ewig linken Neutönern zeige, dass die Musik von Boulez und Stockhausen nur in Sackgassen führte.

Berechnende Wildheit

Im Eröffnungskonzert des Festivals mit dem SWR-Symphonieorchester folgt auf das altbacken-retrospektive Stück „Omega“ des 76-jährigen Schweden Jan W. Morthenson das mindestens ebenso langweilige „The Gates“ des zehn Jahre jüngeren Schotten James Dillon, das eben das nicht tut, was sein Komponist zu tun versprach. Um Übergänge zwischen dem Arditti-Quartett und dem von Pierre-André Valade geleiteten Orchester soll es hier wohl gehen; stattdessen hört man eine Reihung von Zuständen mit vielen Wiederholungen und vielen Liegetönen. Immerhin sorgen die Ardittis für ein paar habhafte Brotkrumen in der wässrigen Klangsuppe. Die löffelt man hörend in sich hinein, und wenn das Stück nach langen dreißig Minuten fertig ist, verlangt es einen lebhaft nach Bissfestem.

Das bietet der Schweizer Martin Jaggi („Caral“) in seinem lustigen Joint Venture von Indio-Flöten (hier gegeneinander verstimmt) und Guggenmusik zwar nicht, aber immerhin, er unterhält. In Klaus Schedls „Blutrausch“ schließlich schreit ein Mann, da wimmert die E-Gitarre, da wummert der Bass; man soll, steht im Programmbuch, an Kindersoldaten denken, und wenn man das tut, teilt sich der Quell von Schedls Energie mit, des elektronischen Overkills, der den Saal mit MG-Salven befeuert, bis nach einer weiten Gleitbewegung abwärts der Sprecher seinen letzten Atemzug tut. Die Wildheit dieser Musik mag berechnet sein, manchmal auch politisch überkorrekt wirken, aber sie hat Eigenart, und das ist so häufig gerade nicht.

Nichts für Spinnenfeinde

Joanna Bailies „Music From Public Places“ für Chor (SWR-Vokalensemble unter Marcus Creed) und Streichquartett (Améi-Quartett) füllt die künstlerischen Gestaltungsräume nicht aus, die sich aus der Bewegung zwischen Kunstklang und Alltagsgeräusch ergibt; die Harmonik ist zementiert, und die Sänger sterben schier am Bore-Out.

Im Konzert des Klangforums Wien unter Titus Engel (beide sind glänzend!) entpuppt sich Rebecca Saunders’ Ensemblestück „Skin“ nur als schillernd-schöne, fein gearbeitete Konfektionsware. Bernhard Ganders „Cold Cadaver with Thirteen Scary Scars“ greift, wenn es sich auf allerlei Zitate und Anleihen, vor allem auf das bombastisch zelebrierte markante Anfangsmotiv von Beethovens fünfter Sinfonie hinarbeitet, tief in die Kiste der historischen Ausstattungsstücke. Michael Wertmüller ist hingegen mit dem hochmotorischen „discorde“ die spannende Integration der schrägen Gruppe Steamboat Switzerland gelungen, die Gander zuvor missraten war.

Bei Wertmüller groovt es, Rhythmen und Metren schieben sich in- und übereinander, und am Ende reckt das Ensemble gleichsam die Faust in die Luft – eine überkommene Geste, ein Zitat auch das, aber damit kann man leben. Ebenso wie mit zwei basswummernden Lautsprechern, zwischen denen bei Thomas Köners Installation „Evakuation“ in einer Turnhalle Klangwogen hin- und herwallen. Oder mit Melanie Mohrens und Bernhard Herborths ironischer Video-Installation „Die öffentliche Probe“, in der die Gründung einer diffusen „Institution“ verkündet wird. Auch die beleuchteten Plastikfolienfäden, die Johannes Sistermanns („Ma Un Ma“) durch ein verlassenes Vereinsheim gespannt hat, sind trotz behaupteter Metaebenen einfach hübsch anzuschauen. Es sei denn, man leide unter Arachnophobie. Spinnenfeinden wird vom Besuch dieser Installation dringend abgeraten.