Rückblick aufs TV-Jahr 2023: „Der Schwarm“, „Club Las Piranjas“, „37 Sekunden“ und „Almania“ (von links oben im Uhrzeigersinn) Foto: ZDF/RTL/ARD/SWR

Das Fernsehjahr hatte Höhen und Tiefen, frische Trends und olle Kamellen, freiwillige oder unfreiwillige Komik. Ein Parcourslauf durch zwölf Monate Film, Serie, Doku, Show bei ARD, ZDF, RTL & Co.

Über das ablaufende Jahr lässt sich deshalb trefflich streiten, weil Streit die favorisierte Kommunikationsform war. Mindestens ebenso trefflich streiten kann man demnach übers ablaufende Fernsehjahr; ein Panoptikum exzellenter Filme, saumäßiger Serien und umgekehrt.

Symptomatisch war bereits im Januar Gestern waren wir noch Kinder: 21 Millionen Abrufe machen Julia Scharfs Familiendrama um einen Mord im Münchner Umland zur meistgestreamten ZDF-Serie.

Katzen werden zu Monstern, Teenies zu Superhelden

Inhaltlich so eigen, dass die US-Rechte verkauft sind, scheitert hiesige Fiktion oft an ihrer Optik. Umso erstrebenswerter wäre es, gehaltvolle Serien wie Nackt über Berlin liefen nicht nur bei Arte. Nach Axel Ranischs Buch und Regie, sperren zwei gemobbte Schüler ihren Direktor in dessen Smart Home. Und der Seelenstriptease aller Beteiligten war so geistreiche Herbst-Unterhaltung, als würde Greta Gerwig einen „Tatort“ drehen. Oder Alexander Adolphs experimentelle Fiktion. Wobei sie ihm der NDR aufgetragen und Die nettesten Menschen der Welt erhalten hat; ein Panoptikum uralter Ängste von Versagen über Einsamkeit bis Hexerei, das über sechs eng verzahnte Einzelstücke Katzen in Monster verwandet, Teenies in Superhelden und Vorstellungsvermögen in Fantasy – mit Bodenhaftung.

In Adolphs Empowerment-Studie Flunkyball geriet Einzelgänger Franz (Laurids Schürmann) Mitte September neunzig ARD-Minuten in den Bann der rätselhaften Zoe (Lena Klenke), sein Hormongewitter reißt selbst Mama (Silke Bodenbender) und Papa (Fabian Hinrichs) ohne die üblichen Klischees pubertärer Filmstoffe mit.

Wie immer: Dominik Graf macht gute Filme

Diese Kunst leiser Intensität machte Anfang und Ende 2023 auch zwei ARD-Werke von Dominik Graf zu Ereignissen. In Gesicht der Erinnerung hilft ein Teenager der Mittdreißigerin Christina, das Trauma ihres gestorbenen Lovers anzugehen. In Mein Falke räumt Anne Ratte-Polle als bindungsgestörte Pathologin beim Zähmen eines Wildvogels ihr ödes Arbeitsleben auf.

2023 war bislang das beste Jahr fürs Thema weibliche Selbstbefreiung. In Nichts, was uns passiert wird Anna (Emma Drogunova) von einem Freund vergewaltigt und trotzdem für mitschuldig erklärt. Ein MeToo-Aspekt, den Julia C. Kaisers Mittwochsfilm Anfang März als Steinbruch kultureller Debatten um die Wahrnehmung der Wahrheit nutzt.

Zwischen Schlagern und SUV

Im Bereich Serie gab es Großartiges wie 37 Sekunden . So kurz und lang zugleich dauert ein sexueller Übergriff, der erst das Opfer (Paula Kober) zerrüttet, dann ihre Freundschaft zur Anwältin Clara (Emily Cox), weil die den Täter (und Vater) im Prozess verteidigt. Bettina Oberlis Vorstadtkammerspiel rührte sechsmal 45 Minuten.

Schwermütige Leichtigkeit ist neben dem Teilrückzug der Männer und Polizisten schließlich ein dritter Trend, gerne im Tarnfleck inszenierter Wirklichkeit – Mockumentary genannt – wie bei Wir sind die Meiers. Von Matthias Matschke bis Bettina Lamprecht top besetzt, stellte Neo in der Sketchcomedy eine Großfamilie zusammen, die das Bürgertum zwischen Schlager, Wokeness, SUV karikiert, aber selten verunglimpft. Stereotypen wie diese verdichten sich übrigens zu einer Gruppe, denen Phil Laude Ende April die ARD-Serie Almania widmetet. Als regelversessener Brennpunktlehrer verdichtet er deutsche Klischees darin fakedokumentarisch unter Problemschülern realsatirisch variiert.

RTL punktet mit einere neuer Showidee: „Die Verräter“

Die Neo-Serie I don’t Work Here wälzte sich Ende März genüsslich im Alltagsrassismus eines multikulturellen Mehrgenerationenhauses. Was besonders lustig war, weil hier auch Opfer wie der schwarze Tagedieb Dawit ihr Fett wegkriegen. Gleiches galt für Aufgestaut. Als Klimakleber im Oktober (Neo) Autos blockierten, hatte das Kreativduo Sarah Schrade & Matthias Thönnissen für alle ein offenes Ohr – schon, weil die Angeklebten Finn und Lena den Aufgestauten gute Empörungsanlässe liefern.

Resultat dieser ideologischen Landvermessung ist Tragikomik von fast Brecht’scher Dringlichkeit. Und damit ein guter Kontrast zur Gefühlslage vieler Fernsehkatastrophen. Gerade RTL wandelt dabei wie in der amüsanten, aber trashigen Spielshow Die Verräter – eine Art TV-Version des Brettspiels „Cluedo“ – zwischen Genie und Wahnsinn. Während das Serien-Sequel der 90er-Pauschalurlaubspersiflage Club Las Piranjas mit Hape Kerkeling als abgehalftertem Animateur zuletzt unfreiwillig unkomisch geriet, war Katharina Thalbachs hobbydetektivische Kanzlerin a.D. Miss Merkel im März freiwillig unkomisch.

Freiwillig und unfreiwillig komisch

Anno Sauls Zwei Seiten des Abgrunds um einen Mörder, der es nach seiner Haftentlassung auf die Schwester vom Opfer abgesehen hat, ist hingegen viereinhalb Thrillerstunden unfreiwillig komisch, also das Gegenteil der freiwillig komischen Realsatiren Legend of Wacken oder Last Exit Schinkenstraße, wo Charly Hübner mit Aurel Manthei die Gründung des legendären Metal-Festivals nachspielt und Heinz Strunk mit Marc Hosemann Ballermann-Musiker auf Malle.

Geradezu lächerlich wurde es, als der vierte TV-Trend öffentlich-rechtlich ausgewalzt wurde: Mystery. Dabei hat Frank Doelger den Schwarm seines Vornamensvetters Schätzing so mies adaptiert, dass man kaum eine der 360 ZDF-Minuten aus dem Lachen kaum rauskam vor Fremdscham. Gleiches galt ein halbes Jahr später fürs alpine ARD-Schauerstück Schnee. Wenn tauende Gletscher darin Leichen skrupelloser Hoteliers aus dem Keller holen, haschen Catalina Molina und Esther Rauch noch billiger Effekte als der Neo-Spuk Was wir fürchten.

Entlarvung der Bonner Verhältnisse

Und das will was heißen. Denn während die Selbstermächtigungsversuche des schwulen Pfarrer-Sohns Simon (Paul Ahrens) und des traumatisierten Mobbing-Opfers Lisa (Mina-Giselle Rüffer) kurz zuvor plausibel gerieten, sind die Gruseleffekte bei Hui Buh glaubhafter als in ihrer Spukschule.

Wie wohltuend, wenn die Realität mal am Boden der Tatsachen blieb. Im Bonn der ARD-Nachkriegszeit etwa. Anfang 2023 durfte Claudia Garde das vergessliche Wirtschaftswunderland endlich so nacherzählen, dass es darin mehr NS-Täter als NS-Gegner gibt. Wie erstere die wehrhafte Demokratie des Verfassungsschützers Otto John (Sebastian Blomberg) untergraben, war somit richtig gutes Historytainment.

...und dann geht auch noch Gottschalk

Quasi die fiktionale Entsprechung geschichtlicher Evidenz, die sich in einer ganzen Reihe herausragender ARD-Dokumentationen ausdrückt. Etwa im dreiteiligen Ampel-Crashtest Regieren am Limit. Anfang März skizzierte Stephan Lamby damit rotgelbgrünen Dauerkrisenmodus, also die Aufmerksamkeitsökonomie ringsum, der sich parallel auch Daniel Sagers Analyse der Relotius-Affäre (Erfundene Wahrheit) widmete, während Florian Opitz‘ Berlin-Collage Capital B das frischvereinte Land im Pulverdampf neoliberaler Interessen vermaß. Ganz kurz immerhin war er verflogen, als Kim Franks Teenie-Band Echt Ende der 90er gedieh, der er unlängst ein wunderbares Gemälde aus Zeiten malte, da Gottschalk mit Wetten, dass…? noch Straßen leerfegte. Jetzt hat er die Wettcouch verlassen. Ob das gut ist oder nicht, darüber lässt sich streiten.

Die meisten der vorgestellten Formate sind in den Mediatheken von ARD, ZDF und Arte oder RTL+ abrufbar.