Nach dreieinhalb Jahrzehnten der Ein-Kind-Politik haben neun von zehn der jüngeren Bewohner der großen Städte keine Geschwister mehr. Foto: dpa

China diskutiert über den Umgang mit der zweiten Generation von verwöhnten Einzelkindern. Die Eltern versuchen, ihren Kindern alle Probleme aus dem Weg zu räumen – bis ins Erwachsenenalter.

Peking - Als Nächstes soll eine Freundin für den 20-jährigen Mengmeng her. Seine Mutter hat dafür bereits eine klare Strategie: „Wir kaufen ihm ein Auto, einen BMW oder so, das kommt bei den Mädchen gut an.“ Im zweiten Schritt wird der Junge dann ein eigenes Apartment bekommen, um als Heiratskandidat bessere Chancen zu haben. Die neue Immobilie soll jedoch in der Nähe der Wohnung der Eltern liegen, damit der Abstand zwischen Sohn und Mutter nicht zu groß wird: „Der Junge braucht mich doch jeden Tag!“

Mengmeng selbst, 20 Jahre und Student einer Privatuni in Peking, sitzt derweil bei offener Tür in seinem Zimmer, spielt Computer – und widerspricht seiner Mutter nicht, während sie sein Leben organisiert. „Es ist doch völlig in Ordnung, sich von seinen Eltern etwas helfen zu lassen“, sagt er später beim Abendessen mit Mama und Papa. „Alle anderen Jungs in meinem Alter bekommen doch auch Unterstützung.“

Im Volksmund heißen sie „kleine Kaiser“, weil ihre Eltern auf jeden ihrer Befehle hören

In China drängt sich eine Frage immer mehr in den Vordergrund: Wie lebenstauglich sind die vielen jungen Leute, die als Einzelkinder aufgewachsen sind? Und was passiert nun, wo sie selbst die nächste Generation von Einzelkindern großziehen? Nach dreieinhalb Jahrzehnten der Ein-Kind-Politik haben neun von zehn der jüngeren Bewohner der großen Städte keine Geschwister mehr. Die Regierung hat die Ein-Kind-Politik zwar im vergangenen Jahr gelockert, doch in China sind bereits 280 Millionen Menschen ohne Schwester oder Bruder aufgewachsen. Sie wollen meist selbst nur ein Kind, obwohl sie inzwischen zwei haben könnten, schließlich kennen sie es nicht anders. Die Folgen dieses Trends beschäftigt zunehmend die Wissenschaft, zumal die weitere Entwicklung der chinesischen Gesellschaft davon abhängt, wie die jungen Leute ihr Leben meistern. „Die Aufmerksamkeit durch zwei Eltern und vier Großeltern bringt in vielen Fällen eigensüchtige Kinder hervor“, warnt Wang Lilin, Expertin für Kinderpsychologie am Jingshi-Hospital in Peking.

Die Lebenseinstellung junger Chinesen unterscheidet sich grundlegend von der früherer Generationen, die oft in Familien mit sieben oder mehr Geschwistern groß geworden sind. Einzelkinder ordnen sich tendenziell anders in der Welt ein als Sprösslinge großer Familien: Statt sich als kleiner Teil eines großen Ganzen zu begreifen, nehmen sie ihre eigenen Wünsche für wichtiger. Im Volksmund heißen sie die „kleinen Kaiser“, weil ihre Eltern auf jeden ihrer Befehle hören. Klar: Einzelkinder gibt es in allen Ländern. „In China kommt jedoch ein weiterer Faktor hinzu, der die Sache zu einem Problem machen kann“, sagt die Psychologin Wang. In westlichen Ländern sehen die Eltern ihre Kinder grundsätzlich als Individuen und versuchen sie mit Herausforderungen auf Trab zu halten. „Chinesische Eltern versuchen dagegen, ihrem Nachwuchs alle Probleme aus dem Weg zu räumen“, klagt Wang. Die Eltern sehen das Leben der Kinder als Fortsetzung ihrer eigenen Geschichte und wollen, dass sie es von Anfang an bequem haben. Das Ergebnis dieser Erziehungsversuche sehe sie täglich in ihrer psychologischen Praxis.

Mit steigendem Wohlstand fingen sie an, ihre Kinder zu verwöhnen

China war bis Ende der 70er Jahre arm und von politischen Turbulenzen zerrissen. Die Elterngeneration hat wenig Erfahrung mit einem normalen Familienleben. Die Regierung hat zunächst die Dörfer auf dem Lande in Volkskommunen umgewandelt. Jugendliche aus den Städten hat sie später aufs Land verfrachten lassen, damit sie das Leben der Bauern kennenlernen. Gerade deshalb war diese Generation jedoch fest entschlossen, ihren Kindern einen besseren Start zu ermöglichen. Mit steigendem Wohlstand fingen sie dann aber an, ihre Kinder zu verwöhnen.

Mengmeng hat nie in seinem Leben den Abwasch gemacht – zu seiner Familie kommt täglich eine Haushälterin, die auch sein Zimmer und seine Kleidung aufräumt. Wenn der Junge etwas haben will, kaufen die Eltern es ihm. Er ist sichtbar übergewichtig – und es fehlt ihm die Disziplin, sein Leben in den Griff zu bekommen.

Viele reiche Eltern wollen ihren Kindern ständig den Weg ebnen

Vor zwei Jahre hat er die wichtigste Prüfung im Leben eines Chinesen verhauen: die zentrale Eintrittsprüfung für die Universität. Sie ist wichtiger als die Abiturprüfung in Deutschland. Statt der Leistungen aus zwei Jahren Oberstufe zählen nur die Ergebnisse von zwei Tagen voller Klausuren. Wer nicht besteht, dem verschließen sich die Türen zu einer normalen Berufslaufbahn. Mengmeng hatte nächtelang das Online-Spiel „Fantasy Westward Journey“ gespielt, statt auf die Prüfungen zu lernen. Aber die Eltern räumten ihm auch dieses Problem aus dem Weg. Sie griffen tief, sehr tief in den Geldbeutel und brachten ihn auf einer internationalen Universität unter, die nicht nach den Ergebnissen den Zentralprüfung fragte.

Ein typischer Fall, urteilt die Expertin. Viele reiche Eltern denken, sie tun ihren Kindern einen Gefallen, wenn sie ihnen bis ins Erwachsenenalter ständig den Weg ebnen. Geld und Beziehungen sollen die Defizite in der Erziehung ausgleichen. Viele lassen ihre Kinder kaum außer Haus, da ihnen draußen etwas passieren könnte.

Klagen über Handysüchtige und unselbstständige Jugendliche gibt es auch in Deutschland

Bei vielen Arbeitgebern gelten die nach 1990 geborenen jungen Leute als schwierig und unselbstständig. Ein Manager einer Pekinger Metallfirma berichtet von einer Praktikantin, von der er sich schnell wieder trennte, weil sie ständig an ihrem Handy hing. Als der Drucker einen Papierstau hatte, kam sie zum Abteilungsleiter: „Hier blinkt etwas, was soll ich tun?“ Ihr war nicht klar, dass sie sich besser an einen Kollegen hätte wenden sollen – nicht gleich an den Chef.

Die Psychologin wundert sich nicht: „Eine hohe Zahl von Angehörigen der betreffenden Generationen wissen nicht, wie sie mit anderen Menschen als ihren Eltern umgehen sollen.“ Auch später in ihren eigenen Beziehungen erwarten sie, dass jemand die Lösung für Beziehungsprobleme auf dem Silbertablett vorlegt. Doch wie in jeder Gesellschaft betrifft ein negativer Trend nicht alle Mitglieder einer Generation. Tatsächlich tut sich die psychologische Forschung schwer, das Problem zu quantifizieren und von ähnlichen Phänomenen in anderen Ländern abzugrenzen. Schließlich sind Klagen über Handysüchtige, unselbstständige Jugendliche auch in Deutschland üblich.

Jüngere Forschungsergebnisse widersprechen diesem Befund

Erste Studien, die chinesische Soziologen an Testpersonen durchgeführt haben, die vor und nach der Einführung der Ein-Kind-Politik aufgewachsen sind, wirkten zunächst eindeutig: Sie seien weniger kompromissbereit, hätten Schwierigkeiten, anderen Menschen zu vertrauen, und scheuten Risiken. Doch jüngere Forschungsergebnisse widersprechen diesem Befund. Ein führender Wissenschaftler auf diesem Gebiet, Zhao Xudong von der Tongji-Universität in Shanghai, spricht die „Generation Y“ frei: Ja, sie habe eine engere Bindung an ihre Eltern, doch in der modernen Gesellschaft funktionieren die Jungen statistisch gesehen unterm Strich tadellos. „Ihre schulischen Leistungen im Hinblick auf Ausdrucksfähigkeit und Mathematikfähigkeiten sind sogar besser“, schreibt Zhao – vermutlich wegen der intensiven Förderung im Kleinkindalter. Wenn sie selbst Eltern werden, dann zeigten sich die Einzelkinder im Schnitt genauso glücklich wie ihre Altersgenossen, die mit Geschwistern aufgewachsen sind. „Es gibt berechtigte Sorge wegen der Langzeitfolgen der Ein-Kind-Politik“, sagt Zhao. „Doch entgegen den Erwartungen und Klischees sind die Leistungen und das Wohlbefinden der kleinen Kaiser mit ihren Altersgenossen aus kinderreichen Familien vergleichbar.“ Die menschliche Psyche sei komplex und anpassungsfähig – es gebe keinen Grund, an der jungen Generation zu verzweifeln.

Statt der Brüder und Schwestern erziehen eben die Spielkameraden in Kindergarten und Schule sie mit, beobachtet Zhao. In eine chinesische Schulklasse gehen bis zu 40 Kinder – da kommt nicht so leicht das Gefühl auf, etwas Besonderes zu sein. Überhaupt betreffe das Problem der verwöhnten Kinder nur die neureiche Schicht in den Städten. Auf dem Lande seien die meisten Familien noch zu arm, um Kinder verziehen zu können – da müssen alle früh mitarbeiten und an einem Strang ziehen.

Die kommunistischen Experimente haben tiefgreifende Auswirkungen auf die Gesellschaft

Andere sehen viel größere Probleme in der Generation der Eltern und Großeltern. Wer heute zwischen 50 und 80 Jahren alt ist, hat in jungen Jahren die gesellschaftlichen Experimente von Diktator Mao Tse-tung voll abbekommen. Dieser hatte zeitweise versucht, die Familien zu zerstören; Autoritäten wie Eltern, Lehrer und Professoren hat er zum Feindbild der Jugend erklärt. Die politischen Wechselfälle haben bei diesen Jahrgängen das Gefühl entstehen lassen, dass Regeln nach Belieben anzuwenden sind – und dass jeder rücksichtslos auf seinen Vorteil bedacht sein muss, um zu überleben. Beispiele von schlechtem Benehmen oder Egoismus in der heutigen chinesischen Gesellschaft lassen sich daher genausogut auf dieses Erbe zurückführen wie auf den Aufstieg der Einzelkinder. Die kommunistischen Gesellschaftsexperimente haben eine tiefgreifende Auswirkung auf die Gesellschaft.

Diktator Mao schwebte eine sozialistische Gemeinschaft vor, in der alle Loyalität dem Staat gehört. Stattdessen ist das Gegenteil eingetreten. Heute ist die Bindung der Kinder an ihre Eltern enger denn je. Sie sind beste Freunde, Berater, Problemlöser und Finanziers. Das hat negative Seiten – aber es führt auch zu einem besonders guten Verhältnis zwischen den Generationen. Die Vorstellungen Maos von der Auflösung der Familie sind damit definitiv Vergangenheit.