Ein guter Lehrer gibt seinen Schülern das Gefühl, dass jeder von ihnen willkommen ist und von ihm gefördert wird. Foto: dpa-Zentralbild

Wie ist Schule heute? Was muss ein Lehrer tun, um Schüler zu motivieren? Was darf er auf keinen Fall tun? Gespräch mit einer jungen Lehrerin und einem pensionierten Lehrer.

Zwei Lehrer, zwei Generationen: Am Gottlieb-Daimler-Gymnasium in Stuttgart-Bad Cannstatt waren Sandra Geßner (31) und Michael Schlenker (67) bis vor kurzem Kollegen. Ihr gemeinsames Thema: Was macht einen guten Lehrer und eine gute Schule aus?

Frau Geßner, warum sind Sie Lehrerin geworden?
Geßner: Die Fächer Geschichte und Politik waren meine Steckenpferde als Schülerin, deshalb habe ich sie studiert. Eigentlich wollte ich gar nicht unbedingt Lehrerin werden. Aber dann hatte ich mein erstes Pflichtpraktikum in der Schule. Die Arbeit mit den Kindern hat mir so viel Spaß gemacht, dass ich doch Lehrerin geworden bin.
Ging es Ihnen auch um die Arbeit mit Kindern, Herr Schlenker?
Schlenker: Nein. Ich bin eher ein typischer Alt-68er. Ich habe Latein, Geschichte und Politik studiert, weil ich es spannend fand. Ich wollte ebenfalls nicht unbedingt Lehrer werden, das hat sich erst nach dem Examen ergeben. Aber ich bin bis zu meiner Pensionierung immer gern in die Schule gegangen.
Geßner: Aber doch wegen der Schüler, oder?
Schlenker: Nein, weil ich Dinge weitergeben konnte, von denen ich überzeugt bin. Meine Generation wollte kritisches Bewusstsein vermitteln. Es ging darum, die Verhältnisse besser zu machen.
Gibt es diesen Missionsgedanken in Ihrer Generation noch, Frau Geßner?
Geßner: Natürlich gibt es Kollegen, die die Welt verbessern wollen. Aber die Arbeit mit den Schülern steht im Vordergrund.
Herr Schlenker, Sie sind 1974 in den Schuldienst eingetreten. Kann man sich die Lehrer von damals wie in der Filmreihe „Die Lümmel von der ersten Bank“ vorstellen: strenge, aber auch ein bisschen vertrottelte Pauker?
Schlenker: Diesen Typus kenne ich schon noch. Dass Lehrer brüllten, war an der Tagesordnung – ebenso, wie die Schüler fertig zu machen und vor die Tür zu stellen. Die Kollegen waren teilweise sehr gehässig und selbstgerecht. Es gab aber auch ganz tolle ältere Kollegen.
Frau Geßner, welches Lehrerbild hat man an der Uni vermittelt?
Geßner: Man bekommt drei Modelle an die Hand: autoritär, laissez-faire, partnerschaftlich-demokratisch. Aber eigentlich lernt man das Praktische nicht an der Uni, die Pädagogik kommt zu kurz. Ich habe meine Praxis aus der Jugendarbeit. Sich selbst als Lehrer zu finden ist schwer. Es erfordert viel Zeit und auch ein wenig Talent.
Schlenker: Es ist ein Riesenfortschritt, dass Studenten ein Pflichtpraktikum machen müssen. Früher hat man bis zum Ersten Staatsexamen keinen Schüler gesehen.
Gibt es regelmäßigen Austausch unter Kollegen über diese Frage?
Schlenker: Viel zu wenig. Wenn die Klassenzimmertür zu ist, ist der Lehrer König. Da hat sich über die Jahre nicht viel verändert. Als ich in den 80ern in ersten Ansätzen Umfragen zum Unterricht, Feedback-Runden und Selbsteinschätzungen unter meinen Schülern eingeführt habe, bekam ich von manchen Kollegen eins auf den Deckel. Heute sind solche Fragebögen Standard.
Geßner: Das Lehrer-Schüler-Verhältnis hat sich verändert. Das ist eher ein Wir-kommen-gemeinsam-ans-Ziel . . .
Schlenker: Vor 30 Jahren hätte ich das vielleicht auch gut gefunden, aber heute sehe ich das anders. Ich glaube nicht, dass der Lehrer reiner Begleiter sein sollte. Der Lehrer ist wie ein Bergführer. Er ist der Experte. Er geht zwar auch mal neben den Geführten oder dahinter, aber er hat die Verantwortung und weiß, welche Wege sicher sind.
Geßner: Aber am Ende stehen alle gemeinsam auf dem Gipfel. Natürlich ist es meine Aufgabe, Wissen und Kompetenzen zu vermitteln sowie Noten zu geben. Darin liegt eine große Verantwortung. Aber wenn ich Schülern zudem vermittle, dass wir den Weg zum Abitur gemeinsam schaffen, hilft ihnen das einfach weiter.
Erziehungsexperten kritisieren, dass Eltern ihre Kinder zu sehr auf Augenhöhe erziehen. Wie erleben Sie Schüler: Wollen die den Kumpel-Lehrer oder klare Ansagen?
Schlenker: Nach meiner Erfahrung erwarten gerade Eltern, die zu Hause auf Augenhöhe erziehen, von Lehrern die harte und klare Linie – und verstecken sich dann gern dahinter. Aber zu den Schülern: Nach der Grundschule erwarten viele – vor allem Jungs – dass jetzt richtige Schule stattfindet, mit klaren Ansagen. In der Mittelstufe, also während der Pubertät, wünscht sich dann keiner mehr Autorität, aber in der Oberstufe wollen Schüler von den Lehrern bestmöglich aufs Abitur vorbereitet werden. Es steht also immer der Lehrer im Fokus.
Das heißt?
Schlenker: Eine Studie des Bildungsforschers John Hattie aus dem Jahr 2009 hat ergeben, dass der Bildungserfolg sehr von der Person des Lehrers abhängt – und weniger von den Methoden.
Geßner: Die Methoden dürfen trotzdem nicht vernachlässigt werden. Wenn ich nur mit Büchern Frontalunterricht mache, werden die Schüler nicht auf das Leben danach vorbereitet. Sie müssen lernen, wie man im Team arbeitet, sich Wissen aneignet und anderen Wissen vermittelt.
Meine Großmutter kann heute noch aus ihrer Schulzeit der Reihe nach die deutschen Kaiser aufzählen. Vermittelt Schule diese klassische Allgemeinbildung überhaupt noch?
Geßner: Die reinen Fakten findet man heute schnell im Internet auf Wikipedia. Es geht doch darum, Zusammenhänge zu verstehen, große Texte zu durchdringen. Schlenker: Wenn man mich bei meinem Abi gefragt hätte, wie wichtig Allgemeinbildung ist, hätte ich mit der Schulter gezuckt. Aber meine Schule hat bei mir Interesse geweckt: für Politik, Geschichte, Philosophie. Das ist unsere Aufgabe: Anregungen zu geben. Ich glaube, dass die Rolle der Schule in Sachen Wissensvermittlung generell gewaltig überschätzt wird.
Fallen Ihre Anregungen bei den Schülern auf fruchtbaren Boden? Soziologen sprechen von einer Generation, die es sich am liebsten bequem macht.
Geßner: Es kommt drauf an, wie man es verpackt. Ich sage zum Beispiel: „Ihr wollt also über den Nahostkonflikt sprechen? Ihr könnt Jerusalem und die dortigen Probleme aber nicht verstehen, wenn ihr nicht den Zweiten Weltkrieg versteht.“ Wenn ich dagegen sage: „Wir lernen jetzt die Geschichte der Juden seit 1949“, dann hört mir keiner zu.
Ihre Schüler wollen über den Konflikt reden?
Geßner: Ja. Auch über das Thema Griechenland. Es gibt viele, die verstehen wollen, was in den Nachrichten berichtet wird – aber daheim keinen haben, der mit ihnen darüber spricht.
Herr Schlenker, wie erleben Sie Schüler heute?
Schlenker: Schüler in den 70er waren weniger obrigkeitshörig. Ich beobachte heute häufiger eine Anpassungsbereitschaft an die Dinge, die man eben tun muss. Schüler wollen heutzutage nicht mehr die Welt verändern, sie wollen etwas wissen, um mithalten zu können.
Viele Eltern lernen daheim mit ihren Kindern. Ist Schule anspruchsvoller geworden?
Schlenker: Wer fürs Gymnasium geeignet ist, braucht kaum Hilfe. Aber heute gehen viele Kinder aufs Gymnasium, die auf einer Realschule oder in einer Ausbildung vielleicht besser aufgehoben wären. 1970 haben etwa 11 000 Schüler in Baden-Württemberg Abitur gemacht, heute sind das fast 40 000, das heißt etwa ein Drittel eines Jahrgangs.
Geßner: Es herrscht die Meinung, dass man nur mit Abitur einen guten Job bekommt. Wir haben Fünftklässler, die nach jeder Arbeit heulen, weil sie nur Fünfer und Sechser schreiben. Eltern wissen gar nicht, was sie ihren Kindern damit antun, wenn sie sie um jeden Preis aufs Gymnasium schicken.
In den geplanten Gemeinschaftsschulen, die die Klassen 5 bis 10, gegebenenfalls auch 1 bis 4 und 11 bis 13 umfassen, sollen Schüler entsprechend ihren Fähigkeiten gefördert werden.
Schlenker: Individuelle Förderung ist wichtig. Aber man darf den Schülern keine falschen Erfolgserlebnisse vorgaukeln, indem man sie unterschiedlich schwierige Klassenarbeiten schreiben lässt. Unser System fördert die intellektuelle Überforderung vieler Schüler. Unis klagen über ungeeignete Studenten, Betriebe über nicht ausbildungsreife Lehrlinge.
Verraten Sie damit nicht ein Ziel Ihrer Generation: die Demokratisierung der Bildung?
Schlenker: Demokratisierung, also Öffnung der höheren Bildung für alle, unabhängig vom Geldbeutel, ist nach wie vor richtig. Aber Demokratisierung heißt nicht, dass alle Abitur machen müssen.
Frau Geßner, wenn Sie etwas am Schulsystem ändern könnten, was wäre das?
Geßner: Das Erste, was ich wieder einführen würde, wäre die verbindliche Grundschulempfehlung. Und dann mehr Zeit für Unterricht. Damit ich einfach mal mit einer Klasse drei Tage nach Berlin fahren kann, um denen Geschichte vor Ort begreifbar zu machen. Oder damit ich im Unterricht auch Probleme zwischen den Schülern besprechen kann.
Schlenker: Schule soll heute ein Ort sein, an den Kinder ihre privaten Probleme mitbringen dürfen, zum Beispiel wenn die Eltern sich scheiden lassen. Aber wir sind keine Experten dafür. Dabei bräuchten wir Unterstützung von Sozialarbeitern – in Vollzeit.
Geßner: Aber falls ein Schüler mit mir reden möchte und nicht mit dem Sozialarbeiter, dann will ich mir dafür Zeit nehmen können.
Sie waren gemeinsam Klassenlehrer einer 7. Klasse: Was haben Sie voneinander gelernt?
Schlenker: Dass ungewöhnliche Methoden zu erstaunlichen Ergebnissen führen können. Etwa der Morgenkreis, den Frau Geßner aus der Jugendarbeit mitgebracht hat.
Geßner: Ich habe das Selbstvertrauen bekommen, dass dieser Beruf mein Ding ist.
Schlenker: Wir haben uns gut ergänzt, aber wir haben auch eine gemeinsame Grundhaltung: Man muss Schülerinnen und Schüler ernst nehmen – und es gut mit ihnen meinen.

Zur Person

Sandra Geßner 1984 in Stuttgart geboren. Studierte in Tübingen und Stuttgart Geschichte, Politik, Deutsch, Erziehungswissenschaften. Ab 2011 Referendarin am Gottlieb-Daimler-Gymnasium in Stuttgart-Bad Cannstatt. Heute Lehrerin am Robert-Bosch-Gymnasium in Wendlingen.

Michael Schlenker 1948 in Freiburg geboren, wo er auch Latein, Griechisch, Politik und Geschichte studiert hat. Ab 1974 Lehrer am Gottlieb-Daimler-Gymnasium in Stuttgart-Bad Cannstatt. Zudem war er Fachberater für Latein, prüfte Lehrer im Staatsexamen und überlegte sich als Mitglied der Abiturkommission Aufgaben. Seit 2014 ist er im Ruhestand.