Dass Jazz im Nationalsozialismus als Propagandamittel missbraucht wurde, zeichnet der 36-jährige Autor Demian Lienhard in „Mr. Goebbels Jazz Band“ nach. Den Roman präsentierte er bei der Esslinger Lesart.
Der Titel „You can’t stop me from dreaming“ schallt blechern aus dem Lautsprecher. Diesen Jazz-Standard aus dem Jahr 1937 hat die Band des Propagandaministers Joseph Goebbels in den 1940er Jahren umgedichtet, um das britische Radiopublikum für das Gedankengut der Nationalsozialisten zu gewinnen. Die Geschichte des Sängers Karl „Charlie“ Schwedler und seiner Musiker erzählt der Schweizer Autor Demian Lienhard in seinem Roman „Mr. Goebbels Jazz Band“. Bei den Literaturtagen Lesart stellte er im ausverkauften Kronensaal der Kreissparkasse Esslingen sein berührendes Werk vor, das ins Innere der gleichgeschalteten Maschinerie dringt.
Das britische Publikum wird aus dem Radio zwar mit der mitreißenden Swing-Melodie, aber mit einem anderen Text beschallt: „Germany ist beating you/You deny it, but it’s true.“ (deutsch: Deutschland besiegt Euch, Ihr leugnet es, doch es ist wahr.“ Plump und bösartig klingen diese Worte zum lockeren Swing-Sound. Moderator Alexander Maier hatte nicht nur sein nostalgisches Grammophon zur Lesung mitgebracht. Er ließ auch einen der Songs einspielen, mit denen Jazz-Musiker im Auftrag der Nazi-Propaganda ungeniert die eigentlich als „entartet“ verpönte Musik instrumentalisierten. „Sie spielten um ihr Leben“, brachte der 36-jährige Autor Lienhard ihren entsetzlichen Existenzkampf auf den Punkt. So verpflichteten Goebbels und seine Schergen für „Charlie and his Orchestra“ auch jüdische und homosexuelle Künstler, die zu den Größen der Szene zählten, für das Orchester.
Betörend schön und ehrlich
Lienhard, der es 2023 mit dem Roman auf die Shortlist des Schweizer Buchpreises geschafft hat, porträtiert nicht nur die Zeit der 1940er Jahre beklemmend lebendig. Die Geschichte der Musiker, die sich im Angesicht des Todes vor den Karren der Nationalsozialisten spannen ließen, schildert er betörend schön. Und dabei bleibt er doch ehrlich. Der Autor, der in Klassischer Archäologie promoviert wurde, legt die dunkle Seite der schillernden Jazz-Ära offen.
„Wie haben Sie die Szenen im Propagandaministerium und an den sonstigen Schauplätzen recherchiert?“, wollte Alexander Maier im lockeren Dialog mit dem Autor wissen. Die Genauigkeit der historischen Quellen hat den Moderator ebenso beeindruckt wie das Publikum. „Parallel zur Arbeit in den Archiven habe ich immer am Roman geschrieben“, berichtet der Schriftsteller.
In seiner bilderstarken Sprache porträtiert der 1987 geborene Autor den Radiomoderator William Joyce, der zu Hitlers Stimme im Propagandasender „Germany Calling“ wurde. In Deutschland nannte er sich „Wilhelm Fröhlich“, sog die faschistoiden Werte der Nationalsozialisten in sich auf. Dieser Medienpolitiker, den seine Zeitgenossen „Lord Haw-Haw“ nannten, überzeugte Joseph Goebbels vom Nutzen einer Jazzband. Mit der amerikanischen Musik, die von den Nazis verteufelt und verfolgt wurde, wollte man Briten, Iren und Amerikaner auf die Seite der deutschen Kriegspropaganda ziehen. Wie umstritten dieser Schritt im inneren Zirkel der Nationalsozialisten war, wollte Maier wissen. Die Perspektive des Zweiflers führt Lienhard mit dem frei erfundenen Schweizer Schriftsteller Fritz Mahler ein, der einen begleitenden Propagandaroman über die Band schreiben soll. Die Betrachtungen des sentimentalen, opportunistischen Beobachters entlarven die hohlen Phrasen der nationalsozialistischen Ideologie. Dass er um 21.59 Uhr mit dem D-Zug 43 aus Basel in der Metropole Berlin ankommt, zeigt Lienhards Faible für Details. Denn diese Zugverbindung hat es in den 1940er Jahren tatsächlich gegeben. Abgeholt wird der Dichter vom Radiostar Joyce alias Fröhlich persönlich. Mit dessen Frau Margret entdeckt er das lüsterne Leben in der Ciro-Bar. Dieser Nachtclub ist heute noch in Berlin zu finden. Von der Hauptstadt aus planten die Nationalsozialisten ihre vernichtenden Feldzüge in ganz Europa.
Ein reflektierter Sprachkünstler
Lienhards Liebe zu geschichtlichen Fakten ist gepaart mit charmanter Selbstironie. So reflektierte der Sprachkünstler im letzten Teil seiner Lesung im Nachwort des fiktiven Staatsarchivars Samuel Tribolet die eigene Arbeit. Nur mit „larmoyanter Selbstbeweihräucherung“ sei der literarische Erfolg garantiert, habe der Schriftsteller verlauten lassen, heißt es im angehängten Schreiben der erdachten Figur. So sucht er in verstaubten historischen Dokumenten nach den vermeintlichen Verbrechen eines Großvaters. Ohne Umschweife geht Lienhard da mit den Mechanismen des heutigen Literaturbetriebs ins Gericht. Diese ästhetische Originalität macht den Reiz seines komplexen Romans aus, der mehr ist als ein Ausschnitt aus der dunklen deutschen Geschichte. „Mr. Goebbels’ Jazz Band“ legt die Macht künstlerischer Propaganda im Nationalsozialismus offen, die nicht wegzudiskutieren ist.
Demian Lienhards Zeitreise
Biografie
Der Schriftsteller Demian Lienhard ist gebürtiger Berner. Er wurde 1987 geboren und studierte Klassische Archäologie, Latinistik und Hispanistik. „Mr. Goebbels Jazz Band“ ist sein zweiter Roman. Sein viel beachtetes Debüt erschien 2019: „Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat.“
Arbeit am Roman
Für seinen Roman über die Jazzmusiker des Reichspropagandaministers Joseph Goebbels erhielt der Autor Stipendien von Pro Helvetia, dem Literarischen Colloquium Berlin, der Stadt Zürich und dem Aargauer Kuratorium. Rechercheaufenthalte führten ihn nach Galway, London und Berlin.
Radio-Propaganda
Swing-Stücke mit politisch motivierten Hetztexten gegen die Alliierten hörten „bis zu sechs Millionen britische Haushalte“, schreibt Demian Lienhard. „Germany calling“ hieß das Programm mit dem britischen Moderator William Joyce alias Wilhelm Fröhlich, der sich in den Dienst der Nazis stellte.