Der Blick in Corona-Zeiten ist auf Kliniken und Heime gerichtet, die allermeisten Pflegebedürftigen werden aber daheim versorgt. Was wird, wenn die osteuropäischen Kräfte gehen? Wenn ambulante Pfleger sich infizieren?
Lünen - Klaus Schmitz wirkt mental stark. Ein positiver Mensch. Mit 79 Jahren versorgt und pflegt er seine Frau Marianne daheim in der Wohnung in Lünen. Sie hat Parkinson, Demenz ist hinzugekommen. Er wäscht sie, kocht für sie, zieht sie an, ist rund um die Uhr verantwortlich. „Ich bin da reingewachsen, es ist für mich normal“, schildert er. Doch die Corona-Krise und die Kontakt-Beschränkungen treffen ihn stark. Zweimal in der Woche war seine Frau zuvor außer Haus in der Tagespflege, aber die ist nun fast überall dicht in Deutschland.
Vor Corona konnte er mal mit dem E-Bike raus, ein bisschen durchs Ruhrgebiet fahren. Als Diabetiker muss er regelmäßig zum Arzt. Jetzt eilt der Senior nur noch kurz zum Einkaufen. Er möchte nicht klagen. „Ich will nicht in ein tiefes Tal fallen.“ Aber: „Ich fühle mich einsam. Meine Frau redet schon seit zwei Jahren nicht. Meine Tochter und Enkel besuchen mich nicht mehr, ein befreundetes Ehepaar auch nicht. Alle weg.“ Der einzige Kontakt ist der Pflegedienst, der sich morgens um seine Frau kümmert. „Man muss die sensiblen Älteren schützen. Aber wir brauchen ein goldenes Mittelmaß. Die Alten dürfen nicht besucht werden, sind eingesperrt - wenn das anhält, ist es wirklich schlimm.“
Die Leiterin eines ambulanten Dienstes in Lünen, Birgit Rückert, berichtet, was sie beobachtet: „Viele alte Menschen sind krank, depressiv, kommen mit der neuen Lage nicht klar.“ Sie treffe auf verunsicherte, traurige, isolierte Menschen. „Die Älteren weinen viel. Und wir dürfen sie nicht mal mehr in den Arm nehmen.“ Auch ihre Mitarbeiter seien am Anschlag. Von ihren 70 Pflegekräften hatten fünf Kontakt zu einer erkrankten Patientin, gingen in Quarantäne.
„Wenn es uns Ambulante nicht gäbe, würde das ganze System zusammenbrechen“, betont Rückert. Denn die allermeisten Menschen werden daheim betreut. Von Pflegekräften und Angehörigen. Für 2020 sei von rund 4,3 Millionen Pflegebedürftigen auszugehen, schätzt der Verband für häusliche Betreuung und Pflege (VHBP). Mehr als drei Millionen - etwa drei Viertel - leben zuhause, sehr oft versorgt von Angehörigen. Und zu etwa 1,2 Millionen Pflegebedürftigen kommen Fachkräfte der ambulanten Dienste nach Hause, wie VHBP-Geschäftsführer Frederic Seebohm erläutert.
Bis zu 200 000 Betreuungspersonen aus Osteuropa werden schrittweise fehlen
Dann sind da - noch - 300 000 Betreuungspersonen aus Osteuropa, oft Polinnen, die sich tagtäglich kümmern und in den Haushalten wohnen. „Beklemmend daran ist: Sie sind zu 90 Prozent illegal tätig und trotzdem faktisch eine Säule der Versorgung alter Menschen in Deutschland“, sagt Seebohm. Nach Ostern werde ein Großteil wegen Corona bis auf Weiteres nicht aus der Heimat zurückkehren. „Die Politik befindet sich in einer Zwickmühle: Sie kann nicht 270 000 Betreuungspersonen sagen, dass sie illegal hier sind und sie zugleich bitten, zu bleiben oder wiederzukommen.“
Bis zu 200 000 Betreuungspersonen aus Osteuropa werden schrittweise fehlen, vermutet Seebohm. „Entweder fangen das die Familien selbst auf, was aber nicht als Dauerlösung zu schaffen sein wird. Oder die Versorgung wird nicht mehr sichergestellt.“
In der Krise werde der ambulante Bereich stiefmütterlich wahrgenommen, findet Christoph Treiß vom NRW-Verband freie ambulante Krankenpflege. „Wir versorgen die alten, multimorbiden Menschen, die besonders anfällig sind für die Infektion.“ Allein in NRW gut 190 000 Senioren Tag für Tag. „Aber wir haben fast keine Schutzkleidung. Wir könnten vor dem Dilemma stehen: Müssen wir uns selbst schützen, müssen wir die Versorgung einstellen? Wer soll sich dann um die alten Menschen kümmern?“ Der Höhepunkt der Pandemie ist laut Experten in Deutschland noch nicht erreicht.
LfK-Geschäftsführer Treiß fordert: „Wir alle wollen den Ausbruch der Krankheit verlangsamen - und ausreichende Schutzkleidung für die häusliche Pflege ist ein Schlüssel dafür.“ Falle jemand im Pflegedienst aus, sei das auch sofort spürbar. Trotz der hohen Belastung und Anspannung sei die Arbeitsmoral weiter sehr hoch.
Rückert ergänzt: „Wir kämpfen täglich, um an Desinfektionsmittel, Schutzkleidung und sicheren Mundschutz zu kommen.“ Pflegeheime und Krankenhäuser würden aber bevorzugt. Ihr eigenes Risiko sei den ambulanten Kräften bewusst. „Vor allem wenn wir Leute übernehmen, die aus den Kliniken nach Hause kommen, haben meine Mitarbeiter Sorgen, dass diese infiziert sind und sie sich bei ihnen anstecken könnten.“
Für die Altenpflege durch ambulante Dienste oder Familienmitglieder sei oft nicht einmal ein Grundschutz vorhanden, bemängelt Eugen Brysch von der Stiftung Patientenschutz. Vor allem die Angehörigen bräuchten dringend Unterstützung. „Bisher haben Bund, Länder und Gemeinden die Familien als den größten Pflegedienst Deutschlands sträflich im Stich gelassen.“