Joachim Spohn spielt seit 40 Jahren auf der Klaviatur des Bürgerengagements Foto: Michael Steinert

Mit einem schweren Unfall im Jahr 1976 hat alles begonnen. Nach diesem schlimmen Erlebnis gründete Joachim Spohn mit einigen Mitstreitern in Stuttgart die Bürgerinitiative Rettungsdienst. Seither haben die unbequemen Engagierten einiges erreicht.

Stuttgart - An einem Februartag 1976 ist Joachim Spohn mit einem Freund im Auto unterwegs. Bei Plieningen werden sie Zeuge eines schlimmen Verkehrsunfalls: Ein Auto rammt ein Moped. Der Autolenker begeht Fahrerflucht, der Mopedfahrer liegt schwer verletzt mitten auf der Straße. Handys gibt es noch nicht – also bleibt Spohns Freund an der Unfallstelle und kümmert sich um das Opfer, er selbst steigt wieder ins Auto und steuert die nächste Telefonzelle an. „Ich habe die Polizei angerufen und gesagt, dass wir dringend einen Notarzt brauchen“, erzählt der heute 61-Jährige. Danach fährt er zum Ort des Unglücks zurück.

Was sich dann abspielt, lässt Spohn noch heute ungläubig den Kopf schütteln. Es kommt kein Notarzt, sondern ein Streifenwagen. Die Beamten sind dazu angehalten, sich erst selbst davon zu überzeugen, dass wirklich Hilfe benötigt wird. Über Funk informieren sie den Rettungsdienst. Doch erneut erscheint kein Notarzt, sondern irgendwann ein Krankentransport mit zwei Ehrenamtlichen. „Die haben den Mopedfahrer nur eingeladen, es gab keinerlei Erstversorgung. All das hat ewig gedauert“, erinnert sich Spohn. Die beiden Studenten sind entsetzt. Und schreiben einen geharnischten Leserbrief an die Zeitungen.

Die Stadt lehnt einen geschenkten Rettungswagen ab

Was er damit in Gang setzt, hätte sich der heutige Musiklehrer Spohn nie träumen lassen. Offenbar teilen viele Stuttgarter seine Kritik. Es hagelt Zuspruch. „Damals gab es in der Stadt nur eine einzige Rettungswache und zwei Rettungswagen mit Notarzt“, sagt Spohn. Viel zu wenig für eine sichere Versorgung einer so großen Stadt. Viele Bürger wollen es nicht bei einem kurzen Aufschrei belassen – Ende 1976 gründet sich die Bürgerinitiative Rettungsdienst. Es folgen Podiumsdiskussionen und Unterschriftenaktionen, bei denen Tausende die Forderung nach einem besseren Rettungsdienst unterstützen. Als erste große Aktion sammelt die Initiative 100 000 Mark und kauft einen Rettungswagen, den sie der Stadt schenken will. Doch Oberbürgermeister Manfred Rommel lehnt ab. Er will, dass das Fahrzeug dem Deutschen Roten Kreuz übergeben wird. Mit dessen Verantwortlichen aber hat sich die Bürgerinitiative bereits einen heftigen Schlagabtausch geliefert. Schließlich landet der Wagen beim Arbeiter-Samariter-Bund, der ihn aber außerhalb Stuttgarts einsetzt.

„Am Anfang bestand der harte Kern aus etwa 15 Aktiven“, sagt Spohn. Je mehr man sich in das Thema einarbeite, desto komplizierter werde es jedoch. „So etwas kann man nicht mit vielen Leuten machen.“ Deswegen gebe es heute „einen Kopf“ aus vier Personen und weitere 15 Unterstützer, die über ganz Baden-Württemberg verteilt seien. Sie sammeln Informationen und halten das Thema hoch. Denn schnell haben sich die Aktivitäten der Bürgerinitiative nicht mehr nur auf Stuttgart beschränkt.

Erfolgreich für die 112 geworben

Bis heute hat Spohn weit über 1000 Briefe geschrieben – an Ministerien, Landkreise, Kommunen, Rettungsorganisationen. Er hat öffentlich informiert und gestritten. Die Bürgerinitiative kann dabei einige stolze Erfolge vorweisen. Zum Beispiel ist die Gruppe wesentlich mitverantwortlich dafür, dass die Notrufnummer 112 inzwischen europaweit gilt und beworben wird. Mehrere Abgeordnete des Europäischen Parlaments hatten die Bürgerinitiative 2007 gebeten, bei den Straßburger Parlamentariern für eine Deklaration zur 112 zu werben. „Wir sind zu fünft tagelang durch die Abgeordnetenbüros marschiert und haben getrommelt“, erinnert sich Spohn. Bei der folgenden Abstimmung erhielt das Vorhaben die höchste Stimmenzahl, die es bis dahin im Europaparlament gegeben hatte. Es ging sofort zur Umsetzung an die Kommission.

Die Themenliste ist lang – und wird bei allen Erfolgen kaum kürzer. Derzeit kämpft die Bürgerinitiative besonders für eine Reform der Rettungsleitstellen in Baden-Württemberg. Weniger Leitstellen, dafür transparenter und in öffentlicher Hand, das schwebt den Ehrenamtlichen vor.

Bei denen, die Spohn mit seiner Kritik trifft, kommen seine Aktivitäten nicht immer gut an. Denn dort kann er mächtig nerven mit seiner Beharrlichkeit und seinen Attacken. In den Führungsetagen mancher Rettungsorganisationen ist noch heute manchmal abschätzig die Rede vom „Musiklehrer“, der sich ständig einmische. Spohn nimmt das sportlich. „Es macht mir nichts aus, als Musiklehrer betitelt zu werden, weil es stimmt“, sagt er und schmunzelt. Er maße sich nicht an, über die Kenntnisse zu verfügen, die jemand vom Fach hat: „Ich würde mich nie als Experte bezeichnen. Aber ich nehme für mich die unverstellte Sicht von außen in Anspruch.“

Den Gedanken ans Aufhören verworfen

Der Kampf für eine bessere Notfallrettung in Baden-Württemberg ist über die Zeit zu einem wichtigen Teil von Spohns Leben geworden. Einer, der auch müde machen kann – gerade, wenn selbst steter Tropfen mal wieder nicht den gewünschten Stein höhlt. Eine Zeit lang hat er deshalb darüber nachgedacht, ob das 40-Jahr-Jubiläum nicht ein guter Anlass zum Aufhören wäre. Doch seine Mitstreiter waren damit ganz und gar nicht einverstanden. Zu viele Themen sind noch offen. „Ich habe mich vom Gegenteil überzeugen lassen“, sagt er – und fügt schmunzelnd an: „Außerdem wären ein paar Leute sehr froh darüber, wenn ich mein Engagement beenden würde. Das muss ja nun auch nicht sein.“

Was aus dem Unfallopfer von jenem Februartag 1976 geworden ist, hat Spohn übrigens nie erfahren. „Wir haben nie wieder etwas gehört“, sagt er. Ausgelöst aber hat der Zwischenfall unendlich viel.