Anthony Perkins in Alfred Hitchcocks „Psycho“ (1960). Anders als viele andere Filme, die sich mit Psychosen und Phobien beschäftigen, gilt „Psycho“ aus fachlicher Sicht nicht gerade als Lehrstück. Foto: picture-alliance / akg-images

Irre Schreie, zuckende Messer, verrückte Ärzte: Ein neuer Sammelband erforscht die Geschichte des Wahnsinns in Kino und TV-Serien.

Fast alle Berufsstände beklagen, dass ihr Alltag in Filmen und Serien verfälscht dargestellt werde. Ausgerechnet aus psychotherapeutischen Kreisen gibt es jedoch viel Lob: Das Fachpersonal könne von filmischen Geschichten über den Wahn sogar noch einiges lernen, heißt es. Diverse Kinoklassiker entpuppten sich bei der Darstellung psychischer Störungen im Umfeld von Schizophrenie, Wahnphänomenen und Psychosen geradezu als Lehrstücke. Beim Publikum erfreuen sich solche Filme ohnehin seit langer Zeit großer Beliebtheit.

Die Personifizierung des Bösen in der Filmgeschichte

Nicht selten sind es dabei brillante Psychoanalytiker, die dem Wahn anheimfallen oder zu Superverbrechern geworden sind, allen voran Dr. Mabuse. Die Romanfigur des Luxemburger Autors Norbert Jacques (1920) inspirierte Fritz Lang zu einer der bekanntesten Produktionen der deutschen Stummfilm-Ära. Dank des vortrefflichen Spiels mit Licht und Schatten gilt der Zweiteiler „Dr. Mabuse, der Spieler“ (1922) als das wohl anschaulichste Beispiel für filmischen Expressionismus. Mabuse ist Kopf eines Gangster-Syndikats, das seine Leute überall hat. In der Filmgeschichte gilt der Unhold seither als die Personifizierung des Bösen schlechthin. Aus psychologischer Sicht steht er für die Manifestierung frühkindlicher Allmachtsfantasien.

Diese Theorie lässt sich auch vom Individuum auf die Gesellschaft übertragen. Im dritten Film, „Das Testament des Dr. Mabuse“ (1933), will der mittlerweile in einer Nervenklinik einsitzende Verbrecher endgültig eine Herrschaft des Schreckens errichten; Mabuse repräsentiert nun den Staatsterror. Kein Wunder, dass Joseph Goebbels den Film verbieten ließ.

Eines der bekanntesten und vielfach neu verfilmten Werke ist „Invasion der Körperfresser“ (auch „Die Dämonischen“, 1956): Außerirdische ersetzen die Bewohner einer kalifornischen Stadt durch gefühllose Doubles. In diesem beliebten Sujet zeigt sich „die Angst des Bürgertums vor dem Verlust der Identität“, der Doppelgänger diene als Projektionsfläche für „verdrängte Wünsche und Entscheidungen“, heißt es in dem Buch „Wahnsinnsfilme“, das sich mit psychischen Erkrankungen in bekannten Leinwandwerken befasst. So lässt sich auch die generelle Faszination des Bösen im Kino erklären, zur Perfektion gebracht in „Das Schweigen der Lämmer“ (1991), Jonathan Demmes Verfilmung des 1988 erschienenen Bestsellers von Thomas Harris: Selten in der Filmgeschichte war die Sympathie für den Teufel so verlockend wie dank der oscargekrönten Leistung des Briten Anthony Hopkins.

Fachliche Expertise vieler Filmautoren sei aus therapeutischer Perspektive beeindruckend

Selbstverständlich ist Serienmörder Hannibal Lecter ein Psychiater, ebenso wie die Titelfigur des deutschen Klassikers „Das Cabinet des Dr. Caligari“ (1920) von Robert Wiene. Der letzte Akt des Stummfilms offenbart jedoch, dass die Geschichte vom wahnsinnigen Anstaltsleiter, der einen somnambulen Patienten zu mehreren Morden anstiftet, eine Wahnvorstellung ist. Gleiches gilt für die Hauptfigur von „Shutter Island“ (2010) mit Leonardo DiCaprio. Martin Scorsese macht sich in seinem Spiel mit Schein und Sein auf perfekte Weise zunutze, dass das Publikum Filmbilder als Wahrheit betrachtet. Der Film eignet sich nach Ansicht des Psychologen Alfred Uhl hervorragend, „um Menschen, die nicht mit psychiatrischen Krankheiten vertraut sind, das Wesen eines Wahns näherzubringen“: Da die Handlung zunächst aus der Perspektive des Wahnkranken präsentiert wird, hat das Publikum keinen Grund, die Bedrohungen infrage zu stellen.

Tatsächlich ist die fachliche Expertise der Drehbuchautorinnen und -autoren aus therapeutischer Perspektive in vielen „Wahnsinnsfilmen“ beeindruckend. Gerade Psychosen eignen sich besonders gut für filmische Charakterstudien. Lange Zeit war die Furcht, in einer „Irrenanstalt“ zu landen, ebenso verbreitet wie die Angst davor, lebendig begraben zu werden, was aus Sicht der Betroffenen womöglich aufs Gleiche hinauslief. Das erklärt, warum Psychiatriefilme fast immer Antipsychiatriegeschichten erzählen. Das berühmteste Werk in dieser Hinsicht ist „Einer flog übers Kuckucksnest“ (1975, Regie: Miloš Forman), die mit mehreren Oscars ausgezeichnete Verfilmung des gleichnamigen Romans von Ken Kesey (1962): Randle Patrick McMurphy täuscht eine psychische Erkrankung vor, um dem Gefängnis zu entgehen. Als personifizierte Provokation bringt er den bis dahin reibungslosen Ablauf in der Klinik komplett durcheinander, und natürlich verkörpert er als Nonkonformist, der tradierte Regeln infrage stellt, die Aufbruchstimmung jener Jahre. Zur Strafe wird ihm mittels einer Gehirnoperation der Stecker gezogen.

Ausgerechnet der wohl bekannteste Psychothriller überhaupt, „Psycho“ (1960), ist hingegen zumindest aus fachlicher Sicht kein Lehrstück, sondern verstärkt das Klischee vom gefährlichen Geisteskranken.

Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman von Robert Bloch (1959), gilt als Alfred Hitchcocks Meisterwerk und war seine erfolgreichste Regiearbeit. Der von Anthony Perkins verkörperte Mörder wurde zum Prototyp eines kompletten Subgenres des Horrorfilms: Fortan wurden die Untaten fiktiver Serienkiller bevorzugt mit ihrem Mutterkomplex erklärt.

Martin Poltrum, Bernd Rieken, Ulf Heuner (Hrsg.): Wahnsinnsfilme. Springer-Verlag, Wiesbaden. 409 Seiten, 29,90 Euro