Nigerianische Frauen und Kinder in der Klinik im Flüchtlingscamp in Minawao, Kamerun. Foto: dpa

Die Terrormiliz Boko Haram verschleppt regelmäßig Mädchen und junge Frauen. Viele werden mit Kämpfern zwangsverheiratet. Nur wenigen gelingt die Flucht. Und selbst dann geht ihr Leid weiter.

Minawao - Zehn Monate lang dachte die Nigerianerin Aisha Moussa, ihr Leben würde jeden Moment enden. Die 15-Jährige war im Februar vergangenen Jahres von der islamistischen Terrormiliz Boko Haram entführt worden. Eines Nachts fielen die Extremisten in ihrem Dorf Gulak im Bundesstaat Adamawa ein und verschleppten Aisha und andere junge Christinnen in ein Lager im Sambisa-Wald.

„Ich wurde bis zur Taille eingegraben. So wollte man mich zwingen, zum Islam überzutreten“, erinnert sich Aisha. Nach knapp drei Wochen Tortur gab sie den Widerstand auf. Sie widerrief ihren christlichen Glauben und wurde mit einem der Fundamentalisten zwangsverheiratet - einem Mann, den sie auf Anfang 30 schätzt.

Viele andere Mädchen und junge Frauen in dem Lager erlitten ein ähnliches Schicksal, erzählt Aisha. „Einige waren grade mal acht Jahre alt“, sagt sie. Tagsüber wurden sie zur Arbeit im Lager gezwungen. „Doch was wir am meisten fürchteten, war, wenn unsere Ehemänner abends zurückkamen, denn das bedeutete Misshandlung und Vergewaltigung“, sagt Aisha. Tränen laufen ihr über die Wangen, als sie sich an zahllose Nötigungen bei vorgehaltenem Revolver erinnert.

Versklavung als religiöse Pflicht

Die Terrorgruppe, die im Nordosten Nigerias und den angrenzenden Gebieten der Nachbarländer Kamerun, Niger und Tschad einen sogenannten Gottesstaat mit strengster Auslegung des islamischen Rechts errichten will, verschleppt seit Jahren immer wieder Mädchen und Frauen. Ähnlich der kruden Ideologie der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) im Irak und in Syrien bezeichnet Boko Haram die Versklavung andersgläubiger Frauen als religiöse Pflicht.

Mindestens 2000 Frauen und Mädchen sind Amnesty International zufolge in die Gefangenschaft der Islamisten geraten. Sie werden zwangsverheiratet, als Sexsklavinnen gehalten, müssen Waffen transportieren oder werden zu Selbstmordattentaten gezwungen.

Die Koordinatorin für humanitäre Angelegenheiten der Vereinten Nationen in Nigeria, Fatma Samoura, glaubt, dass sogar bis zu 7000 Mädchen und Frauen in Gefangenschaft der Terroristen leben. Der weltweit bekannteste Fall ist der der mehr als 200 Mädchen, die aus dem Schlafsaal ihrer Schule in der Stadt Chibok im Nordosten Nigerias verschleppt wurden.

Großes Misstrauen

Aisha kann sich glücklich schätzen. Sie gehört zu den wenigen Frauen, denen die Flucht aus den Händen der Terroristen gelungen ist. Nach Monaten der Gefangenschaft schlich sie sich eines Nachts aus dem Camp und lief zehn Tage durch den Wald, bis sie die Grenze zu Kamerun erreichte. In der Grenzstadt Mora wurde Aisha von Soldaten aufgegriffen und in ein Flüchtlingslager in Minawao gebracht.

Dort lebt sie seit Anfang des Jahres - doch noch immer betrachten die anderen Flüchtlinge das Mädchen mit Argwohn. Die „Boko-Haram-Frauen“ könnten Spione sein, oder Selbstmordattentäterinnen, wird vermutet. „Ich werde behandelt, als ob ich eine ansteckende Krankheit hätte“, sagt Aisha. „Wenn ich komme, drehen sich die anderen weg.“

„Wir können diesen Mädchen einfach nicht über den Weg trauen“, erklärt ein Sicherheitsbeamter des Flüchtlingslagers, der anonym bleiben möchte. Das Misstrauen ist groß, denn Boko Haram zwingt immer mehr Kinder, sich als Attentäter in die Luft zu sprengen. Mehr als 40 Minderjährige verübten nach Angaben des UN-Kinderhilfswerks Unicef im vergangenen Jahr Selbstmordanschläge in Nigeria, Kamerun und im Tschad. Drei Viertel davon waren Mädchen. Bei Anschlägen und Angriffen der Gruppe starben seit 2009 mindestens 14 000 Menschen.

Angst um die Familie

Der kalkulierte Einsatz von Minderjährigen hat nach Angaben von Unicef eine Atmosphäre der Angst und des Argwohns geschaffen. Besonders Mädchen, die der Gefangenschaft von Boko Haram entfliehen können, würden als potenzielle Sicherheitsrisiken betrachtet und daher ausgeschlossen und diskriminiert. „Eins muss klar sein: Diese Kinder sind Opfer, nicht Täter“, sagte der Unicef-Direktor für West- und Zentralafrika, Manuel Fontaine. Die Kinder würden systematisch getäuscht und instrumentalisiert, so Fontaine.

Trotz der harschen Behandlung ist Aisha froh, dass sie hier ist. Im Flüchtlingslager fühlt sie sich seit Jahren zum ersten Mal sicher. Denn auch in Gulak, vor ihrer Entführung, lebte sie mit ihrer Familie in ständiger Angst vor Anschlägen und Angriffen der Terroristen. Was Aisha den Schlaf kostet, ist die Sorge um ihre Familie in Nigeria. Sie befürchtet, dass ihre Eltern und Geschwister in der Nacht ihrer Entführung von den Kämpfern getötet worden sein könnten. Diese Sorge sei schlimmer als alles, was ihr in den vergangenen Monaten passiert sei, sagt Aisha. „Diese Gedanken töten mich innerlich“, sagt sie.