Erst wird geschubst, später zugeschlagen: Angst und Schweigen sind dann die schlechtesten Ratgeber. Foto: dpa/Oliver Berg

Beschimpft und ausgegrenzt, geschlagen und gemobbt: Eine Studie der Universität Dortmund fördert Erschreckendes über die Situation von Grundschülern in Deutschland zutage. Demnach hat die Hälfte der Kinder bereits Erfahrungen mit physischer Gewalt gemacht.

Viele Kinder in Deutschland machen bereits in der Grundschule Erfahrungen mit Ausgrenzung und Gewalt. Das geht aus einer jetzt Analyse des Instituts für Schulentwicklungsforschung (IFS) der Uni Dortmund hervor, die auf der repräsentativen internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (Iglu) von Viertklässlern basiert.

Physische Gewalt und Mobbing

Demnach machen fast die Hälfte der Kinder der vierten Klassenstufen Erfahrungen mit physischer Gewalt und über zehn Prozent mit Online-Mobbing. Eine Übersicht:

  • Unter allen Formen des dissozialen Verhaltens – das heißt aufgrund bestimmten Fehlverhaltens ist jemand nicht oder nur bedingt in der Lage, sich in die Gesellschaft oder in Gruppen einzuordnen – machen die Viertklässler der Studie zufolge besonders häufig Erfahrungen damit, dass man sich über sie lustig macht oder sie beschimpft, was demnach gut 52 Prozent der befragten Kinder mindestens mehrere Male im Jahr erlebt haben.
  • 54 Prozent gaben an, dass sie zum Beispiel beim Spielen nicht mitmachen dürfen.
  • Fast jedes zweite Kind sagte den Angaben zufolge, es sei schon mal geschlagen worden oder jemand habe ihm in der Schule etwa durch Schubsen oder Treten wehgetan.
  • Dass Lügen über sie verbreitet wurden, hatten den IFS-Angaben zufolge etwa 39 Prozent der Viertklässler nach eigener Schilderung erlebt.
  • Etwa zehn Prozent sagten, dass gemeine oder verletzende Informationen schon mal über sie im Internet verbreitet wurden.

Gewalt und Lesekompetenz

Die Erfahrungen mit dissozialem Verhalten seien in Deutschland in etwa so ausgeprägt wie im Mittel aller EU-Staaten. Ausgrenzung und körperliche Gewalt kommen hierzulande aber häufiger vor als im EU-Schnitt, sagt IFS-Bildungsforscher Rahim Schaufelberger.

Zugleich habe sich ein „sehr konsistenter“ – also sehr beständiger – Zusammenhang zwischen Erfahrungen mit dissozialem Verhalten im Schulumfeld einerseits und Lesekompetenz andererseits gezeigt. „Je niedriger die Erfahrungen mit dissozialem Verhalten sind, von denen Kinder berichten, desto höher ist die Lesekompetenz“, heißt es in der Studie. Dieser Zusammenhang lasse aber keine „kausalen Rückschlüsse“ zu.

Bildungspolitik und -praxis müssen einen Fokus auf die Verringerung von dissozialen Verhaltensweisen an Schulen legen, fordert IFS-Institutsleiterin Nele McElvany, die auch Leiterin der repräsentativen Iglu-Studie ist.

Danach können bundesweit 25 Prozent der Viertklässler nicht richtig lesen und Texte nicht gut verstehen. Ein Forscherteam des IFS analysiert regelmäßig einzelne Aspekte der Iglu-Studie vertieft.

Info: Schüler in Deutschland

  • Schulen insgesamt: Im aktuellen Schuljahr (2023/24) sind in Deutschland laut Statistischem Bundesamt rund 11,2 Millionen Schüler an allgemeinbildenden und beruflichen Schulen sowie an Schulen des Gesundheitswesens. Vor vier Jahren (2019/20) waren es etwa 10,9 Millionen.
  • Grundschulen: Im Jahr 2022 besuchten rund 3,02 Millionen Schüler eine Grundschule in Deutschland. Insgesamt lag die Anzahl der Grundschulen im Schuljahr 2022/2023 in Deutschland bei 15 510. Die Grundschule gehört zur sogenannten Primarstufe und umfasst in der Regel die Klassen 1 bis 4.

Bundesländer: Bilanz der Gewalttaten

Schläge, Tritte, sexuelle Übergriffe: Aus Schulen in Deutschland werden mehr Fälle von Gewalt bekannt. Den Landeskriminalämtern und Bildungsministerien wurden Tausende solcher Vorfälle gemeldet. Gleich in mehreren Bundesländern ist die Zahl erfasster Gewaltdelikte im Vergleich zur Zeit vor der Corona-Pandemie gestiegen – mitunter deutlich.

  • Nordrhein-Westfalen: Allein im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen gab es demnach 2022 rund 5400 Gewaltdelikte. Neuere Zahlen liegen den Ländern zumeist noch nicht vor. Vergleicht man zum Beispiel in der Statistik des Landesinnenministeriums in Nordrhein-Westfalen die Jahre 2019 und 2022, so ergibt sich ein Anstieg der Fälle um mehr als die Hälfte, auch wenn die Zahl der Schüler an allgemeinbildenden und beruflichen Schulen sowie an Schulen des Gesundheitswesens nur um etwa ein Prozent stieg (zwischen Schuljahr 2019/20 und 2022/23).
  • Baden-Württemberg: Im Südwesten gab es dem Landesinnenministerium zufolge 2243 Gewaltfälle.
  • Sachsen: In Sachsen waren es insgesamt 1976 Vorkommnisse.
  • Bayern: Dort sind es 1674 Fälle vorsätzlicher leichter Körperverletzung gewesen.
  • Brandenburg: Hier spricht die Polizei von 910 sogenannten Rohheitsdelikte. In allen vier Ländern stieg die Zahl.
  • Berlin:  In der Bundeshauptstadt gibt es an jedem Schultag im Durchschnitt mindestens fünf Polizei-Einsätze. 2022 waren es laut Polizei 2344 Fälle von Körperverletzung. Für 2023 sei eine „erneute deutliche Steigerung der Fallzahlen“ zu verzeichnen. Interessant dabei ist: Solche Vorfälle werden fast nie von den Schulen oder der Polizei der Öffentlichkeit und den Medien mitgeteilt.
  • Thüringen: Dort sprach das Bildungsministerium in Erfurt von 561 Körperverletzungen im vergangenen Jahr (2022: 321).
  • Niedersachsen: In dem Bundesland stieg die Zahl der Rohheitsdelikte und Straftaten gegen die persönliche Freiheit von 2022 um rund 520 Fälle auf 2680 im Jahr 2023. In die Kategorie fallen Taten wie Raub, Bedrohung und Körperverletzungen.

Nur wenige Fälle von Mord und Totschlag

  • Baden-Württemberg: Trotz vieler Polizei-Einsätze kommen Fälle wie der tödliche Messerangriff auf eine Schülerin nahe Heidelberg in den Statistiken selten vor. Dort wird ein 18-Jähriger beschuldigt, im Januar 2024 an einem Gymnasium in St. Leon-Rot auf die Gleichaltrige eingestochen zu haben.
  • Niedersachsen: Zahlen zu den Verletzten schwanken je nach Größe der Bundesländer. In Niedersachsen kletterte die Gesamtzahl der Opfer im Schulkontext von rund 2630 im Jahr 2022 auf etwa 3270 im Jahr 2023.
  • Schleswig-Holstein: Dort sind vor zwei Jahren 255 Schüler und Schülerinnen als Opfer von Vorfällen gemeldet worden – mehr als 2019. In den Jahren 2020 und 2021 waren Schulen wegen der Corona-Pandemie über längere Zeit geschlossen.
  • Sachsen: Kaum Auskunft geben die Landesstatistiken, ob Polizisten zum Beispiel Waffen sichergestellt haben. In Sachsen sind es 2022 insgesamt 15 Waffen gewesen, 42 Messer, 43 Steine und 19 Mal Pyrotechnik. In vielen Fällen seien auch Feuerzeuge eingesetzt worden.
  • Thüringen: In Thüringen wurde laut Bildungsministerium im vergangenen Jahr fünfmal eine Waffe eingesetzt – ebenso oft wurden Softair-Waffen oder waffenähnliche Gegenstände gebraucht – mehr als 2022.

Vielzahl an Gründen für Gewalt und Verrohung

Die Gründe, dass Schüler Gewalt ausübten oder androhten, sind nach Einschätzung des Brandenburger Bildungsministeriums vielschichtig. Dazu zählten Faktoren wie „Defizite in der Selbststeuerung und geringes Selbstwertgefühl, aber auch familiäre und soziale Ursachen wie Gewalterfahrungen in der Familie oder Akzeptanz sowie soziale Normen und Werte und die jeweilige Akzeptanz in der Gruppe der Gleichaltrigen“.

Auch Gewaltinhalte in Medien und auf Online-Plattformen könnten aggressives Verhalten begünstigen.

Mehr Waffen in Schulen als früher

Nach Einschätzung des Allgemeinen Schulleitungsverbandes Deutschlands haben viele Lehrkräfte das Gefühl, dass die Bereitschaft zur Gewalt zugenommen hat. „Wir haben bemerkt, dass mehr Waffen zur Schule mitgenommen werden als früher“, sagt der Verbandsvorsitzende Sven Winkler.

Dabei handelt es sich vor allem um Messer und sogenannte Anscheinswaffen. Das sind Waffen, die echten Schusswaffen täuschend ähnlich sehen. Ob Kinder und Jugendliche Waffen dabeihaben, weil sie gewaltbereit sind, oder weil sie Angst haben und diese zur Selbstverteidigung nutzen wollten, sei unklar.

Sozialarbeiter und Sicherheitsdienste

Um Gewalt zu verhindern, versuchen ihm zufolge viele Schulen die Sozialarbeit auszubauen. Oft fehle es aber an Personal, Zeit und Geld. Oder Schulen setzen Sicherheitsdienste ein, wie eine Einrichtung in Bremerhaven.

Die Jugendlichen schlugen Fenster ein, bedrohten und beleidigten Schüler und Lehrkräfte. Dort kamen fast täglich schulfremde Personen auf das Schulgelände. Sie beschädigten Türen, entriegelten Feuerlöscher und verstopften Toiletten. „Die Lage im vergangenen Herbst war sehr unruhig“, berichtet eine Schulsprecherin. „Ich habe mich unsicher gefühlt.“ Mit den Wachleuten beruhigte sich die Lage wieder.