Das belgische Parlament erlaubte in Brüssel mit klarer Mehrheit Ärzten die aktive Sterbehilfe auch bei Minderjährigen - und zwar ohne Altersgrenze. Foto: dpa

Ein krebskranker Junge will nicht länger leiden. Bislang konnten Ärzte in Belgien nur die Schmerzen solcher Patienten lindern. Bald dürften sie Kindern und Jugendlichen tödliche Medikamente verabreichen. Belgien ist damit Vorreiter.

Ein krebskranker Junge will nicht länger leiden. Bislang konnten Ärzte in Belgien nur die Schmerzen solcher Patienten lindern. Bald dürften sie Kindern und Jugendlichen tödliche Medikamente verabreichen. Belgien ist damit Vorreiter.

Brüssel - Die Schmerzen waren unerträglich, jeder Tag ein Kampf. Der siebenjährige Benjamin litt an Leberkrebs und wünschte sich nach den Worten seiner Mutter nur eins: Nach zwei Jahren des Leidens endlich sterben zu dürfen. Seine Mutter Marijke erzählte im belgischen Fernsehsender RTL, wie sehr ihr inzwischen gestorbener Sohn sich einen sanften Tod mit Hilfe eines Arztes gewünscht habe. Sie sagte: „Wenn man sein Kind liebt und es so leiden sieht, will man nur, dass es aufhört.“

Der Tod eines Kindes ist immer besonders tragisch. Doch was, wenn es sterbenskrank ist und aus dem Leben gehen will? Dann dürfen Ärzte in Belgien dem kleinen Patienten schon bald eine tödliche Spritze oder Medikamente geben. Das Parlament erlaubte am Donnerstag in Brüssel mit klarer Mehrheit Ärzten die aktive Sterbehilfe auch bei Minderjährigen - und zwar ohne Altersgrenze. Dabei ging es emotional zu: Ein Zuschauer störte die Abstimmung und rief „Mörder“ in den Saal. Das katholische Belgien ist nach Angaben des Parlaments weltweit das erste Land mit einer solchen Regelung.

Das Thema wirft gravierende Fragen auf. Die Tötung auf Verlangen soll nur Kindern und Jugendlichen offenstehen, die „urteilsfähig“ und sich ihrer ausweglosen Lage eindeutig bewusst sind. Aber kann ein Siebenjähriger bereits das Ausmaß seines Wunsches verstehen? Der belgische Radiosender RTBF stellt dies auf seiner Internetseite mit einer Karikatur ironisch infrage. Dort fleht ein Kind, das an einer Infusion im Krankenhaus liegt, den Nikolaus an: „Lieber Nikolaus, ich muss Dich um eine schwierige Sache bitten...“

Kritiker bezweifeln, dass die Gesellschaft einem Jugendlichen die Entscheidung über den eigenen Tod überlassen kann. Wer unter 18 ist, kann weder zur Wahl gehen noch ein Haus kaufen. Und das aus gutem Grund, findet der Vorsitzende der belgischen Bischofskonferenz, Erzbischof André-Joseph Léonard. „Und plötzlich sollen sie darüber entscheiden können, sich töten zu lassen.“

Der Kirchenrechtler und Rektor der katholischen Universität Löwen, Rik Torfs, nannte die Pläne in der Zeitung „De Standaard“ ein „tödliches Paradoxon“. Kinder würden zudem Schmerz anders wahrnehmen als Erwachsene: „Kinder können den Schmerz, den sie spüren, nicht relativieren.“ Die Deutsche Stiftung Patientenschutz wirft Belgien gar vor, sich von den gemeinsamen humanitären Werten in Europa zu verabschieden: „Schließlich können Dreijährige, Fünfjährige oder Zehnjährige keine Entscheidung über ihre eigene Tötung treffen.“

Monatelang diskutierte die belgische Öffentlichkeit das Streitthema. Patientenverbände klagten, dass nun Druck auf Ärzte und Krankenschwestern entstehe, Sterbehilfe vorzunehmen. Die Kritiker bemängeln zudem fehlende Kontrollen. Laut Gesetz sollen zwei ärztliche Gutachten und der Rat eines Jugendpsychologen oder -psychiaters ausreichen. Die Eltern müssen schriftlich zustimmen.

Ein "überstürztes" Gesetz

Nach Ansicht einer Gruppe von belgischen Kinderärzten gibt es überhaupt keinen Bedarf für solch ein „überstürztes“ Gesetz. „Die meisten Kinderärzte-Teams wurden in der Praxis noch nie mit dem Wunsch nach Sterbehilfe von einem Minderjährigen konfrontiert“, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung. Kein Kind müsse leiden, die palliative Versorgung sei in Belgien gut. Nur ein Dutzend Fälle von Sterbehilfe erwarten die Kinderärzte pro Jahr - eine kleine Zahl.

Befürworter halten dem entgegen, dass Leiden keine Altersgrenze kenne. Auch Jugendliche hätten das Anrecht auf einen „würdevollen Tod“, sagt der sozialistische Senator Philippe Mahoux. Umfragen zeigen, dass die Sterbehilfe in Belgien breit akzeptiert ist. Die meisten Belgier verstehen unter dem in Deutschland historisch belasteten Begriff „Euthanasie“ die Möglichkeit, einem unerträglich leidenden Menschen auf seinen Wunsch hin einen friedlichen Abschied vom Leben zu ermöglichen.

Mehr als 1400 Erwachsene scheiden in Belgien bereits jetzt jedes Jahr mit Hilfe eines Arztes aus dem Leben. Ein Bürger kann seinen Wunsch nach Sterbehilfe auch per Patientenverfügung festhalten. Selbst bizarre Fälle erhalten Unterstützung. So bat im vergangenen Jahr ein 44-Jähriger nach einer missglückten Geschlechtsumwandlung um Sterbehilfe, sein Wunsch wurde ihm gewährt. Der Senat stoppte jedoch einen Vorschlag, Sterbehilfe auch auf Demenzkranke auszudehnen.

Nun liegt alles in der Hand des belgischen Königs Philippe, der das Gesetz unterzeichnen muss. Eigentlich gilt dies als Formalie. Doch in der Parlamentsdebatte sorgte am Vortag ein Video für Aufsehen, das eine christliche Ärzteorganisation aus Kanada ins Internet gestellt hat. Darin bittet die mit einem Herzfehler auf die Welt gekommene vierjährige Jessica Saba den belgischen König: „Zum Wohle der Kinder dieser Welt - unterzeichne bitte nicht.“