Ein römischer Ziegelofen wurde bereits im vergangenen Jahr gefunden. Foto: Landesamt für Denkmalpflege

Die Funde aus der Vergangenheit auf der Baustelle von Stuttgart 21 haben für Aufsehen gesorgt. Archäologen sind als Beobachter vor Ort und planen weitere Grabungen. Wie sich das auf die Bauarbeiten auswirkt und was man aus den Funden ablesen kann, erklärt Grabungsleiter Andreas Thiel im Interview.

Stuttgart - Herr Thiel, was wurde im vergangenen Jahr auf der Baustelle gefunden?
Im vergangenen Jahr wurde im August in drei Meter Tiefe ein Kanal gefunden, der vermutlich aus dem 17. Jahrhundert stammt. Dazu existieren auch Pläne, die von einem herzoglichen Planer stammen, da der Garten des Herzogs ständig überflutet war. Von September bis November wurden Reste von Ziegelbrennöfen aus römischer Zeit, also aus dem 2. und 3. Jahrhundert, gefunden. Diese gehörten wahrscheinlich zu einem Gutshof, den man an dieser Stelle vermutete. Außerdem fand man um dieselbe Zeit alamannische Spuren aus dem 4. Jahrhundert in Form von Holzpfosten von Gebäuden.
Welche Funde haben Sie aktuell gemacht?
Völlig überraschend hat man vor zwei Wochen Hockergräber gefunden, die nach jetzigem Kenntnisstand aus der Jungsteinzeit stammen. Wir hielten es schon vorher für wahrscheinlich, dass an dieser Stelle Menschen gesiedelt haben. Jetzt haben wir den Beweis dafür. Es ist gut möglich, dass außerhalb des Baufeldes am Bahnhof noch weitere Gegenstände im Boden sind. Diese Einlagerungen wollen wir aber aus Gründen des Denkmalschutzes, für den wir als Landesamt auch zuständig sind, dort lassen.
Was passiert mit den geborgenen Gegenständen?
Alle Funde wurden von uns im Landesamt untersucht. Die Knochen wurden zusätzlich zu unserem Anthropologen nach Konstanz geschickt. Er vermutet ebenfalls, dass die Funde aus der Jungsteinzeit stammen. Sicherheit wird ein Test bringen, den ein Labor in London übernimmt. Dazu wird eine kleine Knochenprobe verbrannt und der verkohlte Rest untersucht, um das Alter ganz genau zu bestimmen. Wenn die Tests abgeschlossen sind, werden die Fundstücke im archäologischen Archiv Rastatt unter konservierenden Bedingungen eingelagert. So kann man in der Zukunft Tests mit verbesserter Technik wiederholen. Allerdings können sie als Ausstellungsstücke von Museen ausgeliehen werden. Konkret sprechen wir über den Verleih dieser Funde mit dem Stadtmuseum Stuttgart. Vielleicht sind die Teile von der Baustelle bald in der neuen Ausstellung im Wilhelmspalais zu sehen.
Warum waren die Gräber etwas Besonderes?
Fundstellen aus der Zeit um 4000 vor Christus in Baden-Württemberg kann man an einer Hand abzählen. Zudem hatten wir an dieser Stelle einfach nicht damit gerechnet. Leider ist dieser spezielle Fund nicht so gut erhalten wie andere Ausgrabungen. Trotzdem bringt er uns einen Schritt weiter, mehr über die Lebensumstände und Abläufe der Vergangenheit zu erfahren.
Was verraten die Entdeckungen über die Vergangenheit?
Wir können uns noch nicht erklären, warum im Stuttgarter Talkessel trotz ungünstiger Lage gesiedelt wurde. Ich persönlich und einige Kollegen vermuten, dass die Menschen zum Ende der Jungsteinzeit wieder als Nomaden umherzogen. Über die Knochen können wir heute noch Krankheiten, Ernährung und eben Mobilität der Menschen ablesen. Zudem versuchen wir bei den anderen Funden zu klären, ob der Wechsel zwischen Römern und Alamannen (Anmerkung der Redaktion: von Historikern Alemannen genannt) friedlich oder im Konflikt abgelaufen ist. Da es keine schriftlichen Quellen gibt, kann nur die Archäologie Klarheit schaffen.
Haben die Funde Auswirkungen auf die Bauarbeiten?
Bisher läuft es so, dass ein Mitarbeiter des Landesamts für Denkmalpflege vor Ort ist und baubegleitend beobachtet. Es werden immer wieder alte Tonscherben oder Ziegel aus der Erde geholt. Allerdings erwarten wir noch Funde in anderen Baufeldern. Zum Beispiel im angrenzenden Baufeld an den Kanal werden sicher noch weitere Platten hervorkommen. Wenn diese Fläche nicht mehr als Lagerfläche benötigt wird, werden wir mit einer archäologischen Ausgrabung beginnen, bevor die Bahn mit den Bauarbeiten fortfährt. Wir stimmen uns aber mit den Planern ab, sodass es zu keinen Verzögerungen wegen unserer Arbeit kommen wird.