Henning Scherf lebt seit 27 Jahren in einer bunt gemischten Wohngemeinschaft. Foto: Leonie Schüler

Der ehemalige Bremer Bürgermeister Henning Scherf hat über sein Leben in einer Hausgemeinschaft erzählt. Er möchte dafür werben, ältere Menschen in der Gesellschaft zu halten.

Weilimdorf - Norddeutscher Charme strömte vergangene Woche durch die Altenwohnanlage am Lindenbachsee, als der ehemalige Bremer Bürgermeister Henning Scherf zu Gast war. Das Interesse an seiner Person war groß: Etwa 150 Besucher waren zum Vortrag des charismatischen Hanseaten gekommen, der im Zuge der Veranstaltungsreihe „Alter hat Zukunft in Weilimdorf“ stattgefunden hat.

Dass Alter Zukunft hat, dieser festen Überzeugung ist auch Henning Scherf. „Viele denken, im Alter wird’s immer weniger. Aber wir erleben, dass es ein neues Lebenskapitel ist, in dem man noch ganz wunderbare Entdeckungen machen kann“, sagte der 75-Jährige. Seine Lebensfreude ist hausgemacht, und zwar im wahren Wortsinn. Seit 27 Jahren lebt er zusammen mit seiner Frau in einer zehnköpfigen Hausgemeinschaft. Die Gruppe ist bunt gemischt: Paare und Singles, Studenten und Senioren leben unter einem Dach. Jeder hat seinen eigenen Wohnbereich und könnte die Türe abschließen, wenn er wollte. „Das haben wir aber noch nie gemacht.“

Selbstständigkeit hat Priorität

Die Idee, in einer Hausgemeinschaft alt zu werden, ist bei Henning Scherf und seiner Frau schon früh gereift. Mitte 40, als die drei gemeinsamen Kinder zum Studieren wegzogen, haben sich die beiden überlegt, wie sie ihre verbliebene Lebenszeit gestalten wollen. „Wir haben das über vier Jahre mit Freunden beraten, deren Kinder auch auf dem Sprung waren“, erzählte Scherf. Sie bereiteten sich intensiv auf den Schritt vor, fuhren zusammen in Urlaub und bezogen auch die Kinder in die Überlegungen mit ein. Mitten in der Bremer Innenstadt fanden sie in einem großen, alten Haus schließlich den Ort, an dem ihr Wunsch Wirklichkeit werden sollte. Mit dem Geld von dreien wurde es gekauft und umgebaut.

Der Alltag der WG-Mitglieder ist selbstbestimmt. „Wir wollen so selbstständig sein wie möglich und nicht gezwungen sein, jeden Morgen und Mittag zusammen zu essen“, stellte Scherf klar. Dennoch gebe es einen Termin pro Woche, den sich alle freihalten: das gemeinsame Frühstück am Samstagmorgen. Reihum ist jeder einmal dran, das Essen vorzubereiten. Trotz aller Unabhängigkeit ist das Leben der Hausbewohner mit der Zeit immer mehr miteinander verwoben. Von sieben Autos, die anfangs vor der Türe standen, gibt es nur noch eines. „Wenn man Bedarf hat, redet man miteinander. So kriegt man viel voneinander mit.“ Wichtig ist Scherf, dass im Haus genügend Platz für Besuch ist. An Weihnachten können 20 Gäste Platz finden. Allein er und seine Frau hätten neun Enkel – Scherf nennt sie „Hauskinder“. „Auch unsere Singles haben das Gefühl, sie leben in einer Familie.“

Sterben soll nicht tabuisiert werden

Die erste Nagelprobe des Zusammenlebens sei bereits nach zwei Jahren eingetreten, als eine Hausbewohnerin todkrank wurde. Zwar habe sich die Gruppe vorab in die Hand versprochen, bis zum Tod zusammenzustehen, „aber wir dachten, das passiert erst in 30 Jahren“. Ein hydraulisches Bett wurde geliehen, Wissen über das Pflegen erlangt, eigene Ängste wurden überwunden. Die Gemeinschaft begleitete die Freundin bis zum Tod, zwei Jahre später auch ihren 22-jährigen Sohn. „Das hat uns nicht überfordert“, sagte Scherf mit Nachdruck. Viele würden Sterbebegleitung für etwas Entsetzliches halten. Er selbst habe am Sterbebett eine neue Qualität des Lebens erfahren. „Ich möchte, dass das Sterben nicht tabuisiert wird“, betonte er. „Zusammenleben schließt eben auch das Sterben mit ein. Es ist eine tolle Vorerfahrung für die eigenen Ängste.“ Er wünsche sich, eines Tages ebenfalls in den eigenen vier Wänden sterben zu dürfen. „Ich möchte, dass es sich in unserer Gesellschaft herumspricht, dass wir da Sterben dürfen, wo wir zuhause sind.“

Das sei auch deshalb wichtig, da in der alternden Gesellschaft die hauptamtliche Pflege bald nicht mehr zu stemmen sei. Schon jetzt fehle es massiv an Personal. Es müsse daher Alternativen geben. Er halte einen „Pflegemix“ für eine Lösung, also eine Mischung aus gegenseitiger Hilfe in einer Hausgemeinschaft, Unterstützung durch Angehörige, Nachbarn und hauptamtliche Pfleger. Sein Credo: „Das geht.“ Wenn die ältere Generation integriert und nicht ghettoartig abgeschoben werde, sei dies für den Einzelnen gut, aber auch für die Gesellschaft im Ganzen. „Wenn sich ältere Menschen anregend beteiligen, wenn man sie mobil hält und sie davor bewahrt, bettlägerig zu werden, dann kann man Pflege vermeiden. Ältere in der Gesellschaft zu halten, dafür möchte ich werben.“