Aufnahme von Botho Walldorf: die Walhüterin Dietmann, Neufra, 1975 Foto: Walldorf

Er ist Heimaktkundler und leidenschaftlicher Hobby-Fotograf: Botho Walldorf hat das Alltagsleben auf der Schwäbischen Alb auf mehr als 100 000 Bildern festgehalten. Tübinger Studenten würdigen das beeindruckende Lebenswerk auf besondere Art.

Sigmaringen - Botho Walldorf steht in den Katakomben des Staatsarchivs Sigmaringen. Regalmeter an Regalmeter reihen sich hier in den klimatisierten Räumen unzählige Akten, Urkunden, Amtsbücher, teilweise aus dem 12./13. Jahrhundert. Im Karton, den der 73-Jährige zielsicher herauszieht und vorsichtig öffnet, ist freilich viel jüngere Historie festgehalten: Darin sind Fotografien aus den 1960er, 70er Jahren verwahrt, jedes Bild fein säuberlich beschriftet mit Ort und Zeit und gegebenenfalls mit den Namen der Porträtierten. Es sind Aufnahmen von der Schwäbischen Alb, aus Gammertingen und anderen Dörfern im Niemandsland zwischen Reutlingen und Bodensee, Aufnahmen von der Hohenzollerschen Landesbahn, von vermeintlich banalen Alltagsszenen, von Land und Leuten und Gebäuden. Mehr als 100 000 solcher Fotos hat Botho Walldorf „geknipst“, wie er sagt. Heute sind die Bilder Dokumente der Zeitgeschichte, von unschätzbarem Wert für die Erforschung der Vergangenheit. „Botho Walldorf“, sagt Archivchef Volker Trugenberger, „hat Dinge festgehalten, die sonst niemand festgehalten hat. Das ist ein Glücksfall.“

„Die Bilder sind echt, sind nicht geschönt“

Einige Etagen höher im Staatsarchiv wird zurzeit eine Auswahl von gut 40 Walldorf’schen Motiven gezeigt. Studierende des Instituts für Medienwissenschaft der Universität Tübingen haben unter Anleitung von Ulrich Hägele diese kleine, feine Schau konzipiert, um den fotografischen Schatz ins Licht zu rücken. Auch die jungen Leute, die die Nachkriegszeit allenfalls aus den Erzählungen der Eltern und Großeltern kennen, erlagen der Faszination der Bilder aus einer nicht allzu fernen und doch untergegangenen Welt. „Botho Walldorfs Aufnahmen sind anders. Er setzt nicht auf Inszenierung, nicht auf Ästhetik“, sagt die Studentin Luna Selle, „seine Bilder sind echt, sie sind mitten aus dem Leben gegriffen, und sie sind nicht geschönt.“

Walldorf hat Charakterköpfe auf Zelluloid gebannt, wie das des Zimmermeisters Heribert Hummel, der mit seinem markanten Bart an den letzten Kaiser Wilhelm erinnert. Oder jenes der Waldschützin Dietmann, wie sie keck aus dem Fenster guckt. Doch da sind vielmehr Motive: Sie zeigen einen alten Lebensmittelladen, den Aufbau eines Dachstuhls durch zwei kräftige Kerle, eine Hausschlachtung oder auch den bemerkenswerten Blick in ein Wohnzimmer im Örtchen Neufra. Das Bild zeigt eine „Kistenwirtschaft“. So nannte man damals die in Wohnungen privat betriebenen Kneipen, in denen günstiges Flaschenbier ausgegeben wurde – und die manchen Gammertinger Wirt auf die Palme brachten. „Mit besonderem Gespür hat Botho Walldorf das Untergehende festgehalten“, sagt der Archivdirektor Trugenberger: Dampflokomotiven, Hausabbrüche, Gassen, Arbeitstiere, selbst Plumpsklos, alles Motive, die sonst kaum in Fotosammlungen zugänglich sind.

Für den Tübinger Dozenten Ulrich Hägele ist Walldorfs Werk einmalig. „Man könnte ihn mit einem Archäologen vergleichen, der in haarfeiner Arbeit Schicht für Schicht Geschichte und Geschichten aus der Vergessenheit freischält“, sagt er. Und dabei sind es nicht nur einzelne Motive, die beeindrucken, es sind vor allem die von enormer Schaffenskraft zeugenden Massen an Aufnahmen. Fast manisch erscheint Walldorfs Drang, alles, aber auch alles für die Ewigkeit festzuhalten. In 60 Jahren hat der Fotograf, so Hägeles Rechnung, 2800 Kleinbildfilme verarbeitet, hat, statistisch gesehen, mindestens siebenmal am Tag auf den Auslöser gedrückt. Entstanden sei, so formuliert es der Wissenschaftler, „eine visuelle Dokumentation über die Kultur- und Lebensweise auf der Alb, die im süddeutschen Raum ihresgleichen sucht“.

Walldorf nimmt solche Lobpreisungen bescheiden hin. Und doch ist spürbar, dass ihn die späte Wertschätzung mit einer gewissen Genugtuung erfüllt. Denn es hat sich ihm tief ins Gedächtnis gebrannt, dass er gerade in seinem Heimatdorf zumindest bei früherer Gelegenheit „doch immer wieder auch belächelt“ wurde. An seiner Leidenschaft zu fotografieren hat dies nichts geändert. Und vielleicht war die Kamera ja bisweilen ein Schutzschild für das 1945 geborene und 1950 mit der Mutter nach Gammertingen gekommene Flüchtlingskind. Aus Westpreußen stammte die Familie und fing auf der rauen Alb bei null wieder an. Und so war es ein Segen für Walldorf, dass er, der in der Schule erstmals mit der Fotografie in Berührung kam, von einem Nachbarn eine Kamera geschenkt bekam. Die Dacora Dignette aus Reutlinger Fabrikation sollte über Jahre hinweg seine treue Begleiterin werden.

Die Idee dahinter: das Aussterbende zu bewahren

Als er in einem Schuppen in Gammertingen dann eine Dampflok entdeckte, hatte er zugleich sein Thema gefunden. Er habe geahnt, dass es diese Form des Antriebs bald nicht mehr gibt – und war beseelt von der Idee, als, wie er sagt, „teilnehmender Beobachter“ das Aussterbende zu bewahren, zumindest in Bildern.

Walldorf hat eine bürgerliche Karriere gemacht. Der Industriekaufmann ist verheiratet in Wannweil und Vater eines Sohnes. Bis zu seiner Pensionierung war er am Stuttgarter Flughafen tätig – und doch hat er über all die Jahrzehnte hinweg in der Freizeit seiner eigentlichen Leidenschaft gefrönt. Als seine Mutter Mitte der 1980er Jahre verstarb, fanden sich in deren Haus 300 Ordner mit Fotos – für ihn der Anstoß, die Sammlung nach und nach öffentlichen Archiven zu überantworten, vor allem dem Staatsarchiv in Sigmaringen. Die Verwahrung und Erschließung seines eigenen Bestandes hat er in jahrelanger akribischer Arbeit selbst übernommen.

Was ihn im Übrigen bei der Durchsicht der unzähligen Motive am meisten fasziniert hat? Die Erkenntnis, dass – und das belegen Botho Walldorfs Bilder eindrucksvoll – „ganz normale Menschen zu einem Teil der Geschichte werden können“.