Ein Pfleger hält die Hand eines Todkranken Foto: fotolia

Der Mediziner Clever bezieht Stellung in der Sterbehilfedebatte. Eine gesetzliche Neuregelung lehnt er ab. Schon heute gebe es Handlungsspielräume für Ärzte. Man müsse sie nur nutzen, fordert er. 

Herr Clever, Deutschland diskutiert über die Sterbehilfe. Vielleicht gibt es eine gesetzliche Neuregelung durch den Bundestag, aber noch ist nicht klar, wie diese Regelung aussehen könnte. Ein kleinster gemeinsamer Nenner vieler Abgeordneter ist die Ablehnung der organisierten und geschäftsmäßigen Sterbehilfe. Schließen Sie sich den Verbotsforderungen an?
Ja, ein solches Verbot ist richtig.
Warum?
Weil das Sterben nicht normierbar ist. Es ist immer ein Einzelfall, und jeder Einzelfall muss in seiner Besonderheit erfasst werden. Das gebietet die Würde des Menschen. Den Menschen im Leiden und Sterben zu begleiten, ihm dabei zu helfen, den richtigen Weg zu finden, auch gemeinsam mit Angehörigen, ist eine urärztliche Aufgabe. Das kann nur gelingen, wenn es zwischen Patient und Arzt ein Vertrauensverhältnis gibt. Das kann nicht geschäftsmäßig erfolgen. An diesem Punkt bin ich Frank-Ulrich Montgomery, dem Präsidenten der Bundesärztekammer, sehr dankbar.
Weshalb?
Er sagt: Wir Ärzte treten nicht als Sterbehelfer durch die Tür, das todbringende Mittel in der Hand. Das ist und kann auch künftig nicht unsere Aufgabe sein, auch wenn manche Politiker und Experten das jetzt von uns verlangen.
Sie sagen, es sei eine urärztliche Aufgabe, den sterbenden Menschen zu begleiten, ihm zu helfen, auch bei der Suche nach dem richtigen Weg. Was genau meinen Sie damit?
Die Grundsätze zur ärztlichen Sterbebegleitung von 2011, aber auch die ärztlichen Berufsordnungen enthalten sehr gute Formulierungen zu der Frage, was Ärzte im Angesicht des Todes zu tun haben. Wenn man das noch einmal liest, dann sind dort auch Freiräume beschrieben, die in der individuellen Situation auch auszuschöpfen sind für den Menschen.
Was sind das für Freiräume?
Der Arzt erhebt zunächst den Befund, dann diagnostiziert und therapiert er. Tritt eine Krankheit in ein Stadium, das unweigerlich zum Tode führt, dann gilt das nicht mehr. Dann braucht es keine Diagnostik mehr, und es muss auch nicht mehr jede Therapie gemacht werden. Dann steht die palliative Versorgung im Vordergrund, also Linderung des Leidens, Begleitung und Trost.
Hat die Ärzteschaft zu spät verstanden, dass das Therapieren um jeden Preis ein falscher Weg sein kann?
Ärzte können dank der modernen Medizin das Leben um beträchtliche Jahre verlängern. Ich nenne als Beispiele nur die künstliche Ernährung und Beatmung. Wir haben vielleicht zu lange auf die technischen Möglichkeiten gesetzt. Aber auch diese neuen Techniken haben letztlich die Grundfragen des ärztlichen Tuns nicht verändert. Wir erkennen heute mehr und mehr, dass dem auch Grenzen gesetzt sind – und gesetzt sein müssen. Das ist ein Lernprozess, auch in Reaktion auf die Angst der Menschen, medizinischen Apparaten ausgeliefert zu sein. Die Selbstbestimmung des Menschen hat heute einen anderen Stellenwert, auch am Lebensende, und wird auch juristisch durchgesetzt. Das haben wir Ärzte zu respektieren.
Eine Reihe von Abgeordneten und Experten sind der Auffassung, dass die bestehenden Handlungsmöglichkeiten für Ärzte – etwa durch passive und indirekte Sterbehilfe – ausreichen und dass es deshalb gar keiner Neuregelung bedarf, einmal abgesehen vom Verbot der organisierten Sterbehilfe. Andere fordern die Möglichkeit eines ärztlich assistierten Suizids als letzten Ausweg für Patienten. Wie stehen Sie dazu?
Ich sehe ebenfalls keinen gesetzlichen Handlungsbedarf. Der Suizid ist nicht strafbewehrt, die Beihilfe ist es auch nicht. Das ist der rechtliche Rahmen in Deutschland. Aber ich sage klar: Die Beihilfe zum Suizid ist keine ärztliche Aufgabe. Das vertreten auch Ärzte, die sich nicht verschließen, wenn es im Gespräch mit dem Patienten darum geht, wie das Lebensende aussehen könnte. Das ist eine sehr individuelle Entscheidung – und muss es auch bleiben.
Das bedeutet aber, dass ein ärztlich assistierter Suizid heute schon möglich ist.
Arzt und Patient bewegen sich an einer Grenze. Ich kann solche Handlungen nicht ausschließen, die sich aus der Kenntnis des Arztes über die individuelle Situation eines Menschen und im Einvernehmen mit diesem Menschen und seinem persönlichen Umfeld so ergeben. Jeder Arzt ist da seinem Gewissen verpflichtet. Aber es wäre eine Unmöglichkeit, wenn hinterher völlig unbeteiligte Richter ein Urteil darüber zu fällen haben. Wir brauchen an dieser Stelle kein weiteres Gesetz.
In Paragraf 16 der Musterberufsordnung für Ärzte der Bundesärztekammer heißt es: „Ärztinnen und Ärzte haben Sterbenden unter Wahrung ihrer Würde und unter Achtung ihres Willens beizustehen. Es ist ihnen verboten, Patientinnen und Patienten auf deren Verlangen zu töten. Sie dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten.“ Der Paragraf 16 wurde auf dem Deutschen Ärztetag 2011 in Kiel um die beiden letzten Sätze verschärft. Für die Berufsordnung der Landesärztekammer Baden-Württemberg wurden sie nicht übernommen. Warum?
Es stimmt, wir haben unterschiedliche ärztliche Berufsordnungen. Das ist eine Folge des Föderalismus und überhaupt nicht schlimm. Ich finde es sogar ermutigend, dass wir in der Ärzteschaft darum ringen und zu unterschiedlichen Formulierungen kommen. Die Botschaft lautet: Die Beihilfe zum Suizid ist nicht die erste ärztliche Handlungsoption. Aber Ärzte, die einen Patienten lange kennen, finden einen Weg. Durch Abbruch einer Therapie und durch Schmerzlinderung, aber im Einzelfall auch durch weitere Hilfen jenseits der palliativen Versorgung. Wir wollen keinen Dammbruch haben, das stand hinter dem Mehrheitsbeschluss des Deutschen Ärztetags in Kiel. Wenn wir deutlich machen, dass es unterschiedliche Ansichten im Detail geben kann, halte ich das für legitim. Anders als mancher Politiker, der meint, er müsste die Ärzteschaft jetzt bundesweit auf eine einheitliche Linie bringen.
Was sind Hilfen jenseits der palliativen Versorgung? Geht es darum, Schmerzen so zu bekämpfen, dass die Schmerzmittel das Leben verkürzen können?
In der Palliativsituation, etwa bei einem Krebs der Bauchspeicheldrüse im Endstadium, kann man das Schmerzmittel so dosieren, dass es zu einer Sedierung des Patienten kommt. Sein Bewusstsein ist dann gedämpft oder völlig ausgeschaltet. Das muss man natürlich besprechen, mit dem Patienten und seinen Angehörigen und im Behandlungsteam. Es geht darum, dass man das Leben nicht um jeden Preis verlängert, wenn alle Therapiemöglichkeiten ausgereizt sind. Das passiert täglich im Krankenhaus, aber auch zu Hause. Es gibt keinen Arzt, der deswegen Probleme bekommen würde.
Das ist die Palliativsituation in größter Not, im Endstadium einer Krankheit. Was ist, wenn jemand vorher den Wunsch äußert, den Zeitpunkt des Todes selbst zu bestimmen, um nicht in diese Situation zu geraten?
Es gibt Menschen, die ihre Autonomie unter allen Umständen wahren möchten. Ich sehe darin ein Thema unserer Zeit und nicht unbedingt eine ärztliche Frage. Aber ich plädiere immer dafür, das Gespräch mit einem Arzt zu suchen, bei dem man sich gut aufgehoben fühlt. Wenn wir genügend Ärzte haben, die das Vertrauen von Patienten auch in solchen Notlagen genießen und die das ermöglichen, was das Strafgesetzbuch erlaubt, dann gäbe es gar keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf. Leider haben wir kein Überangebot an Ärzten, die Zeit haben und zuhören können.