„Und ich bin auch hier, der Präsident der Ukraine“: Wolodymyr Selenskyj spricht regelmäßig zu seinen Landsleuten – beruhigt und motiviert. Foto: AFP

Seit 100 Tagen führt Russland einen Angriffskrieg in der Ukraine. Was ist seitdem passiert? Ein Rückblick

Wolodymyr Selenskyj hält das Smartphone weit vor sich. So erfasst die Kamera auch seine engsten Gefährten, die hinter ihm stehen. Geschlossen und entschlossen. „Der Premier ist hier, der Fraktionschef ist hier“, beginnt Selenskyj seine Rede und stellt alle vor. „Und ich bin auch hier, der Präsident der Ukraine.“ Hinter ihm ragen die Säulen seines Amtssitzes in den Kiewer Nachthimmel. Bald wird der 25. Februar enden. Seit gut 40 Stunden herrscht Krieg im Land. Aber: „Unsere Truppen sind hier, unsere Menschen sind hier. Wir sind alle hier, um unsere Unabhängigkeit zu verteidigen. So wird es laufen.“

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Selenskyj behält recht. Genau so läuft es. 100 Tage sind es an diesem Freitag, in denen die Ukraine um ihre Existenz kämpft. Denn als der russische Präsident Wladimir Putin am 24. Februar den Angriff befiehlt, da sagt er: „Wir werden die Ukraine entmilitarisieren und entnazifizieren.“ Ziel ist ein Regimewechsel, um das Nachbarland als eigenständige Nation auszulöschen. Das hat Putin längst klargestellt: „Die Ukraine ist ein unveräußerlicher Teil unserer eigenen Geschichte und Kultur.“ Und weil der russische Plan vorsieht, Selenskyj zu töten oder ins Exil zu treiben – genau deshalb ist das Selfie aus der Nacht auf den 26. Februar so wichtig.

CIA bietet Selenskyj Fluchthilfe an

Vielleicht sogar kriegsentscheidend. Zumindest gilt das für die ersten 100 Tage. Denn niemand außerhalb der Ukraine hat mit einer solchen Kampfbereitschaft gerechnet. Putin ist sich sicher, dass die Menschen in Kiew, Charkiw und Odessa die russischen Truppen mit Brot, Salz und Jubel begrüßen werden. Aber auch im Westen geben die meisten Fachleute der ukrainischen Armee nur eine Halbwertszeit von Tagen. Der US-Geheimdienst CIA bietet Selenskyj Fluchthilfe an. Doch der reagiert mit dem Satz: „Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit.“ Er ist bereit, für sein Land zu sterben.

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Im Westen haben sie einen anderen Plan. Die EU und die USA verhängen schnell Sanktionen, wie sie „die Welt noch nicht gesehen hat“. So sagt es US-Präsident Joe Biden. Russische Geldhäuser werden vom Zahlungssystem Swift abgekoppelt. Das Vermögen der Zentralbank wird eingefroren. Exportverbote für Hochtechnologie sollen die Wirtschaft im Mark treffen. Zugleich liefern vor allem Briten und Amerikaner der Ukraine Waffen, mit denen sich ein Guerillakampf führen lässt. All das zielt auf einen neuen Kalten Krieg ab, mit einem Hotspot in einer von Russland besetzten Ukraine. Deshalb ist es auch keine Frage, dass Flüchtlinge willkommen sind. Polen, Deutschland und viele andere EU-Staaten nehmen fast sechs Millionen Menschen aus der Ukraine auf.

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In Warschau sagt Premier Mateusz Morawiecki: „Unsere Türen und Herzen bleiben geöffnet.“ Die Geflüchteten sind dankbar, aber vom Sieg in der Heimat überzeugt. Sie hoffen auf schnelle Rückkehr. Die EU-Gastgeber glauben eher daran nicht. Und weil sie langfristig planen, gibt es auch Ausnahmen bei den Sanktionen. Bundeskanzler Olaf Scholz verkündet zwar das Aus für Nord Stream 2. Aber von russischem Öl und Gas wollen sich die EU und vor allem Deutschland nicht sofort abkoppeln. „Wir dürfen uns selbst nicht mehr schaden als Putin“, lautet die Devise.

Zugleich tritt Scholz am 27. Februar im Bundestag ans Rednerpult und verkündet eine „Zeitenwende“. Der Kreml habe die Sicherheitsordnung in Europa zertrümmert. „Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie davor.“ In dieser neuen Welt soll die Bundeswehr mit 100 Milliarden Euro nachgerüstet werden. Und die Ukraine soll Waffen aus Deutschland bekommen. Gegen Russland. Das ist 77 Jahre nach dem Weltkrieg ein historischer Bruch. Aber Scholz sagt auch: „Dies ist Putins Krieg.“ Er hofft auf den Widerstand der Menschen in Russland.

Die Angreifer kommen kaum voran

Dort jedoch unterstützt eine große Mehrheit die Invasion, der sich Selenskyj und seine Landsleute entgegenstemmen. Das Ergebnis verblüfft alle: Die Angreifer kommen kaum voran. Nicht vor Kiew, nicht vor Charkiw, nicht im Donbass. Die Verteidiger dagegen versenken die „Moskwa“, das Flaggschiff der Schwarzmeerflotte. Statt der erwarteten schnellen Eroberung setzt Moskau bald auf Raketen. Zum Sinnbild des Vernichtungskriegs wird Mariupol am Asowschen Meer. Drohnen filmen dort bald eine apokalyptische Ruinenlandschaft. Die russische Luftwaffe zerbombt sogar eine Geburtsklinik und ein Theater, in das sich Zivilisten geflüchtet haben. Auf den Vorplatz haben sie auf Russisch in riesigen Lettern „Kinder“ geschrieben. Bis zu 600 Menschen sterben.

In Butscha, nördlich von Kiew, zerren Soldaten Menschen aus ihren Häusern und richten sie mit Kopfschüssen hin, auch Kinder und Alte. Ermittler zählen später mehr als 420 Tote. Bekannt werden die Massaker in der Region Anfang April, als sich die russische Armee zurückzieht. US-Präsident Biden nennt Putin allerdings schon vorher einen „Schlächter und Kriegsverbrecher“. In einer Rede in Warschau versteigt er sich zu der Forderung: „In Gottes Namen, dieser Mann darf nicht an der Macht bleiben.“ Streben die USA also einen Regimewechsel in Moskau an?

Das Weiße Haus dementiert, aber Bidens Rede markiert ein Umdenken im Westen. Angesichts der unerwarteten ukrainischen Erfolge setzt ein Ringen um die Kriegsziele ein, das bis heute anhält. Nur in einem sind sich alle einig: Putin ist strategisch gescheitert. Er wollte ja nicht zuletzt „die Ausdehnung der Nato an die Grenzen Russlands“ rückgängig machen.

Putin ist strategisch gescheitert

Stattdessen beantragen Finnland und Schweden im Mai die Aufnahme in das Bündnis. Zugleich liefert der Westen immer mehr und immer schwerere Waffen in die Ukraine. Georgien, die Republik Moldau und die Ukraine stellen Anträge auf EU-Beitritt. In Brüssel werden weitere Sanktionspakete geschnürt. Putin bleibt nur die Hinwendung zum totalitären China. In einem seltenen Moment der Wahrheit sagt der Militärexperte Michail Chodarjonok Mitte Mai im Staatsfernsehen: „Die ganze Welt ist gegen uns.“ Russland müsse „raus aus der Ukraine“, fordert er. Aber auch Putin selbst räumt am 9. Mai erstmals Verluste ein. Ausgerechnet am „Tag des Sieges“ im Zweiten Weltkrieg wirkt der Kremlchef wie ein Geschlagener. Von einem Sieg in der Ukraine ist die russische Armee zu diesem Zeitpunkt weit entfernt.

Die angekündigte Großoffensive im Osten kommt anfangs nicht vom Fleck. Und dennoch: Nach 100 Tagen Krieg ist nichts entschieden. Mariupol ist inzwischen gefallen, und „der Donbass ist die Hölle“. Sagt Selenskyj und fordert mehr Waffen vom Westen, wo sich allmählich Kriegsmüdigkeit breitmacht. Putin dagegen erklärt nun wieder öfter: „Wir werden unsere Ziele erreichen.“