Foto: StN

Die Tarnanlage lenkte gut 40 Luftangriffe auf Stuttgart in die schwäbische Provinz ab.  

Stuttgart/Lauffen - Im Luftkrieg hielt Lauffen am Neckar den Kopf für Stuttgart hin - eine in der Nähe des Weinbauorts aufgebaute Tarnanlage führte die britischen Bomber in die Irre. Wie effektiv die auf freiem Feld stehende Bahnhofsattrappe die Angriffe auf sich zog, belegen sogar interne Aufzeichnungen der Royal Air Force.

Unter den Attacken vor allem englischer Piloten hat Stuttgart im Zweiten Weltkrieg schwer gelitten. Den insgesamt 53 Angriffen auf die Landeshauptstadt fiel bis 1945 mehr als die Hälfte der Gebäude zum Opfer, nach Kriegsende waren zwei Drittel der Wohnungen und gut 75 Prozent der Industriebauten unbrauchbar. Fünf Millionen Kubikmeter Schutt und Trümmer mussten in der Stadt beseitigt werden, die Statistik der Luftangriffe listet 4577 Tote und 8875 Verletzte auf.

Noch schlimmer wären die Verwüstungen aber gewesen, hätte nicht eine bei Lauffen am Neckar aufgebaute Attrappenstadt bis 1943 wenigstens einen Teil des Bombenhagels abgefangen. Allein im Kriegsjahr 1941 gingen über Lauffen etwa 1500 Splitterbomben und an die 100 Sprengbomben nieder. Bis 1943 hatten die Kulissenstadt und der als Geburtsort des Dichters Friedrich Hölderlin bekannte Weinort gut 40 Luftangriffe abgefangen, die für Stuttgart bestimmt waren.

Wie effektiv die unter dem Decknamen "Brasilien" errichtete Attrappe britische Bomber narrte, geht aus einer internen Einsatzbilanz der Royal Air Force hervor. Entdeckt und unserer Redaktion zur Verfügung gestellt hat das nur für den Dienstgebrauch gedachte Dokument der Stuttgarter Walter E. Werner. Der 1919 geborene Leser war im Zweiten Weltkrieg in Sizilien in amerikanische Gefangenschaft geraten, noch 1947 musste Werner in England ausgediente Flughäfen ausmisten. "In Lincolnshire war alle zwei Kilometer eine Startbahn für den Luftkrieg", erinnert sich der im Krieg viermal verwundete Stuttgarter.

Die von ihm im Einsatzbunker entdeckten Unterlagen der Royal Air Force belegen, dass die Briten sehr wohl um Täuschungsmanöver der deutschen Luftwaffe wussten. "Durch Luftbilder war nicht nur die Lage der Attrappenstadt bekannt, selbst die Größe ist mit 4,8 Kilometer Länge und 2,4 Kilometer Breite exakt verzeichnet", sagt der 92-jährige Stuttgarter. In deutschen Archiven sind kaum historische Unterlagen über die Tarnanlage zu finden - wegen der Furcht vor Spionage und strenger Geheimhaltungsvorschriften auf dem Gelände erinnern nur verwackelte Fotos von Flakhelfern an die Lauffener Attrappenstadt.

Das Dokument der Royal Air Force bietet eine deutlich detailliertere Beschreibung: Minutiös wird aufgelistet, wie viele Flugzeuge über den Kanal flogen und wie viel Sprengstoff sie an Bord hatten. In der Nacht vom 28. auf den 29. Juli 1944 etwa klinkten 457 Bomber über Stuttgart insgesamt 1613 Tonnen aus - nach dem Einsatz wurden 39 Flugzeuge vermisst. "Ein sehr großer Teil der Gebäude wurde faktisch ausradiert", heißt es in der Bilanz der Royal Air Force.

Fast schon bewundernd allerdings ist von der verwirrenden Wirkung der Attrappenstadt in Lauffen die Rede. Bis zur Erfindung einer technisch zuverlässigen Ortung waren Piloten auf gute Sicht angewiesen: "In der Nacht vom 6. auf den 7. März 1942 wurde unser Angriff auf Stuttgart großteils in dieses Gebiet abgelenkt", räumen die Militärs deshalb in dem Geheimpapier ein. Weil die noch nicht mit Radar ausgerüsteten Bomber die Orientierung verloren, bekam Heilbronn einen Teil des Bombenhagels ab, selbst das 70 Kilometer entfernte Philippsburg wurde unter Feuer genommen.

Aus der Luft betrachtet hat die Neckarschleife in Lauffen eine gewisse Ähnlichkeit mit Bad Cannstatt, auch die Lage in einem Talkessel konnte ortsunkundige Flieger auf falsche Fährten locken - zumal die Royal Air Force ihre Attacken bis 1943 nur nachts flog und ihre Bomben aus Angst vor den Flugabwehrgeschützen aus einer Flughöhe von 10000 Metern abwarf. Kernstück der in der Einflugschneise von Stuttgart errichteten Attrappenstadt war eine detailgetreue Nachbildung des Hauptbahnhofs. Aus Holz und Leinwand wuchs der Bonatz-Bau bei Lauffen ein zweites Mal aus dem Acker.

An Beleuchtung sparte die Luftwaffe beim Lockvogel nicht: Elektrische Lampen täuschten beleuchtete Gleise vor, künstliche Lichtblitze sollten vorbeifahrende Straßenbahnen darstellen. Strohmatten markierten die umliegenden Straßen. Um Piloten erfolgreiche Treffer vorzugaukeln waren in "Brasilien" sogar große Becken gemauert worden, in denen mit Benzin übergossenes Holz eine lichterloh brennende Stadt simulierte. Eine massive Flugabwehr mit 50 Geschützen und eine Batterie mit 30 starken Scheinwerfern bildete bei Lauffen den Höhepunkt des virtuellen Szenarios.